H. Referat auf der Tagung der Arbeitsgruppe Bildungsrecht der Deutschen Gesellschaft für Bildungsverwaltung und der Kommission Bildungsorganisation, Bildungsplanung, Bildungsrecht der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft am 7.10.2003 in Münster: Schule in erweiterter Verantwortung Analyse und Bewertung der Rechtslage in Nordrhein-Westfalen

1  Einleitung

In Nordrhein-Westfalen hat im vorigen Jahr ein relativ kühn konzipierter Modellversuch mit einer größeren schulischen „Selbständigkeit“ begonnen. Daran waren anfangs landesweit 237 öffentliche Schulen aller Formen und Stufen beteiligt; im jetzigen zweiten Jahr sind es, wie zu hören ist, bereits 280 Schulen. Ihnen wird von staatlicher Seite probeweise für sechs Jahre mehr Gestaltungsfreiheit in curricularer, organisatorischer, personeller und finanzieller Hinsicht eingeräumt. Damit hat eine in diesem Bundesland seit längerem geführte, immer ziemlich schwierig gebliebene schulpolitische Autonomiediskussion schließlich doch noch ein beachtliches vorläufiges Ergebnis erbracht. Man hat dabei manche Bedenken und Zweifel überwunden, wie sie zuletzt auch durch die „Nach PISA“-Debatte mit ihrer besonderen Vorliebe für zwingende Standards, zentrale Vorgaben und Kontrollen, Selbst- und Fremdevaluation usw. genährt worden waren. Man redet jetzt auch in Düsseldorf viel von Qualität und Qualitätssicherung, man will sich aber nicht zu einem überschießenden, bürokratisch-sachfremden Reglementieren und Eifern hinreißen lassen. Vielmehr hat man eine schulgesetzliche Grundlage für ein umfängliches qualitätsorientiertes Experiment mit größeren innerschulischen Freiräumen geschaffen und ist nun in die Realisierungsphase eingetreten, wobei das Schulministerium mit der Bertelsmann-Stiftung kooperiert.

Mittlerweile ist die Problematik der Schulautonomie in Theorie und Praxis auch andernorts in Angriff genommen und breit entfaltet worden. National wie auch international hat das Thema in bemerkenswerter Weise Karriere gemacht. Hierzulande hat es die bildungspolitische und bildungsrechtliche Szene auch in anderen Bundesländern beeinflußt und tut das heute in zunehmendem Maße, etwa in Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Hostein und sogar auch in Bayern. Hier beschränke ich mich erst einmal auf rechtliche Merkmale des jetzigen NRW-Projekts „Selbstständige Schule“. Wie Rolff kürzlich konstatiert hat, ist dieses Projekt das interessanteste und anspruchsvollste Schulentwicklungsvorhaben des Landes und wohl auch der ganzen Bundesrepublik. Das ist Grund genug, die rechtlichen Fundamente dieses Modellprojekts einmal etwas genauer zu untersuchen. In der Diskussion wird dann Gelegenheit sein, den Sachstand in anderen Ländern vergleichend einzubeziehen.

2  Das experimentelle Design in juristischer Sicht:  Stärken und Schwächen

2.1  „Schule & Co.“ als noch nicht rechtlich geregelter subregionaler Vorläufer

Das gegenwärtig laufende hiesige Großprojekt hatte einen kleineren Vorläufer, der zunächst kurz erwähnt sei. Das Düsseldorfer Schulministerium hatte von 1997 bis 2002 gemeinsam mit der Bertelsmann-Stiftung auf vertraglicher Grundlage – ohne dass dafür eine spezifische Gesetzesbasis geschaffen worden wäre – unter dem Namen „Schule & Co.“ einen auf den Kreis Herford und die Stadt Leverkusen beschränkten Feldversuch veranstaltet, an welchem anfangs 52 und zuletzt 90 Schulen teilgenommen hatten.

Im Vordergrund stand dort von vornherein das Motiv der Qualitätssicherung bzw. -steigerung – ein Reformmotiv, das dann seit PISA 2000 in aller Munde war und die Versuchsanordnung immer deutlicher bestimmte. Dabei sollte es um mehr pädagogische Prozeß- und Ergebnisqualität gehen. Unter dem charakteristischen Motto „qualitätsorientierte Selbststeuerung“ sollte erprobt werden, ob und unter welchen näheren Voraussetzungen qualitative Verbesserungen der Schulleistung (auch) durch größere schulische Selbstständigkeit erreicht werden könnten. Im Ergebnis wurde jenes subregionale Experiment in der schulpolitischen Fachwelt meist als gelungen und vielversprechend bewertet. Die damalige Schulministerin Behler stellte fest, in dem Vorversuch sei, wie gewünscht, ein signifikanter Zusammenhang von zunehmender schulischer Selbstständigkeit und wachsender Unterrichtsqualität sichtbar und operationalisierbar geworden. Damit komme „Schule & Co.“ auch eine Schubwirkung für das nachfolgende Großprojekt zu, in dem diesem Zusammenhang weiter nachgegangen werden solle.

2.2  „Selbstständige Schule“ als regulatorisches Thema: Herausforderung und Chance

Während man bei dem eben genannten kleineren Feldversuch – wie auch bis heute in anderen Ländern, z.B. in Bayern – noch „gesetzesfrei“ auszukommen gedachte, wurde für den darauf folgenden Großversuch ein besonderer Rechtsetzungsbedarf gesehen – eine Einsicht, an der unter verfassungsrechtlichem Blickwinkel (Gesetzes-, insbesondere Parlamentsvorbehalt) in der Tat nicht vorbeizukommen ist. Sie dürfte auch einem Gebot politischer Klugheit entsprechen. In Nordrhein-Westfalen gingen die Dinge nun folgendermaßen voran:

Im Mai 2001 brachten SPD- und Grünen-Fraktion im Landtag den Entwurf eines „Schulentwicklungsgesetzes“ ein. Der Gesetzentwurf war dann Gegenstand einer breiten und kontroversen öffentlichen Diskussion, die sich auch auf einer parlamentarischen Anhörung von Sachverständigen und Verbänden manifestierte. Dabei traten einige ungeklärte Aspekte und Schwachstellen zutage, so eine anfängliche Management-Fixierung und die neue Wettbewerbsproblematik. Nach weiterem Geplänkel wurde der Gesetzentwurf im November 2001 mit ein paar geringfügigen Änderungen verabschiedet.
Das Schulentwicklungsgesetz trifft in Art. 1 unter der Überschrift „Öffnungsklausel“ einige Vorkehrungen für eine Flexibilisierung einschlägiger schulrecht-licher und sonstiger Rechtsnormen. Die dortige Regelungstechnik ist im wesentlichen generalklauselartig, unter Hinzufügung einer Verordnungsermächtigung (Art. 1 Abs. 5 SchEntwG), derzufolge die Konkretisierung der rechtlichen Ver-suchsbasis dem Schulministerium obliegen soll. Aufgrund dessen erging im April 2002 die „Verordnung „Selbstständige Schule“ – VOSS)“.

In Art. 2 SchEntwG sind einige sämtliche Schulen betreffende, sofort in Kraft tretende geänderte gesetzliche Dauerbestimmungen enthalten. Darin liegt ein Vorgriff auf eine in Düsseldorf angekündigte kodifikatorische Großaktion, welche eine Zusammenführung der bisherigen zahlreichen, jeweils auf einzelne Teilmaterien beschränkten Landesschulgesetze zu einem einheitlichen Reformgesetz bewirken soll. Sie soll – unter Einbeziehung von Versuchsergebnissen – erst in einigen Jahren in ganzer Breite in Angriff genommen werden.

Parallel zur Schaffung der gesetzlichen Experimentierklausel und zu ihrer Implementierung durch die Versuchsverordnung veröffentlichte das Schulministe-rium eine detaillierte Ausschreibung in Verbindung mit einer Projektbeschreibung. Zwischen Land (Ministerium) und Bertelsmann-Stiftung wurde ein Kooperationsvertrag über das neue gemeinsame Projekt abgeschlossen. Damit begann die Bewerbungsfrist, auf die ein Auswahlverfahren und der Abschluß von Kooperationsvereinbarungen mit den ausgewählten Schulen folgten. (Die wesentlichen Texte sind vorhin verteilt worden.) Zum Schuljahrsbeginn 2002/03 startete das Projekt schließlich in 18 sog. Modellregionen mit 237 Modellschulen.

Hiermit wurde ein Konstituierungsprozeß abgeschlossen, welcher im politischen Raum zuletzt im Zeichen eines zunehmend emotionalisierten Richtungskonflikts gestanden hatte. CDU- und FDP-Sprecher hatten das Vorhaben scharf kritisiert, im wesentlichen mit der Begründung, es enthalte einen inneren Widerspruch, der nach Lage der Dinge unauflösbar sei und zum Scheitern des Versuchs führen könne: Die (allerseits gewünschte) Qualitätssteigerung sei mit einer Verselbstständigung der Schulen prinzipiell unvereinbar, sie werde dadurch behindert oder gänzlich vereitelt, also sei die „Selbstständige Schule“ als dysfunktional anzusehen und abzulehnen. Bei den parteipolitischen Akteuren sehr beliebt war eine Farben-Metaphorik, welche sich im Munde der Opposition immer weiter vereinfachte, ungefähr wie folgt: Schulautonomie sei als prinzipiell „grün“ einzustufen, Qualitätsvorsorge dagegen als tendenziell „rot“ oder besser, nämlich um einige Grade härter und kompromißloser als bei den Sozialdemokraten, als „schwarz“ bzw. „gelb“.

Gegen diese parteipolitische Aufteilung und Polarisierung des Sujets wandten sich hingegen Sprecher der Regierungskoalition, zumal unter Hinweis auf die versöhnende Botschaft der Rau-Kommission in ihrer Zukunftsdenkschrift (1995): „Qualitätsorientierte Selbststeuerung“ sei eben kein Widerspruch in sich selbst, sondern ein integrativer Ansatz und ein neues Paradigma; dies sei der eigentliche Kern der gedachten großen Innovation. Nichtsdestoweniger setzten die Grünen den Akzent etwas mehr auf die Selbstständigkeitsidee, wohingegen im Schulministerium das Erfordernis der Qualitätssicherung etwas stärker betont wurde. Endlich wurde des Rätsels Lösung in einer Prozeduralisierung gesucht, mit der man das Vereinbarkeitsproblem zeitlich hinausschieben und erst einmal nach unten delegieren wollte.

Nach dem Ausscheiden Frau Behlers aus dem Kabinett im Herbst 2002 erklärte die neue Schulministerin Schäfer, sie stehe hinter dem Reformprojekt und werde es konsequent fortsetzen. Auch die nordrhein-westfälische SPD stellte sich kürzlich noch einmal ausdrücklich hinter das Projekt, und sie veranstaltet darüber am kommenden Freitag in Herne eine eigene Tagung unter dem Motto „Von der Vision zur Wirklichkeit“. Für die Versuchspraxis, wie sie mittlerweile in Gang gekommen ist, liegt in alledem eine spezifische Herausforderung und Chance. Dabei kommt es nun auch darauf an, wie die regulatorischen Grundlagen nä-herhin aussehen.

2.3  Die Öffnungsklausel: Regulierte Selbstregulierung

An den Anfang hat der Landesgesetzgeber in Art. 1 Abs. 1 SchEntwG eine Generalklausel gestellt, mit der er ein gewisses Maß an Deregulierung erreichen möchte, und zwar will er insoweit von staatlicher Regulierung auf „regulierte Selbstregulierung“ vor Ort umschalten (ein Begriff, welchen ich der allgemeinen Diskussion über sog. Neue Steuerungsmodelle entnehme).

In dieser Öffnungsklausel tritt der experimentelle Charakter des hier getroffenen bildungsrechtlichen Arrangements deutlich hervor. „Erproben“ will man einen lockeren Regulierungsmodus, demzufolge das Schulministerium nach näherer Maßgabe von ihm zu erlassender Versuchsverordnungen (§ 1 Abs. 5 SchEntwG) eine Anzahl ausgewählter Versuchsschulen im Vereinbarungswege von bisher geltenden Regelungen dispensieren kann. Innerhalb der so entstehenden Freiräume sollen diese Schulen zu „selbstständigen Entscheidungen“ kommen. Dergestalt sollen „neue Modelle“ erprobt werden, die bei günstigem Verlauf später in entsprechende landesweite Dauerlösungen zu überführen wären.

Im Blick auf die angekündigte große Schulrechtsvereinheitlichung wird darauf-hin in § 1 VOSS ein sechsjähriger Versuchszeitraum, beginnend mit dem Schuljahr 2002/2003, festgelegt und eine zweistufige wissenschaftliche Evaluation vorgesehen. Man will mit weiteren Schritten nicht auf die Abschlußevaluation warten, die es erst zum Schuljahrsende 2007/2008 geben soll. Bereits nach drei Jahren, zum Ablauf des Schuljahres 2004/2005, soll eine Zwischenevaluation vorliegen, von der man sich erste substantielle Erkenntnisse über die Verallgemeinerungs- und Alltagstauglichkeit einer derartigen schulischen Selbstregulie-rung verspricht. Die Begleitforschung ist einem Konsortium aus den Universitäten Dortmund und Essen unter Leitung der Professoren Holtappels und Rolff sowie Klemm übertragen worden.

2.4  Über Versuchszwecke

Als Zweck des Versuchsvorhabens nennt Art. 1 Abs. 1 SchEntwG die „Erprobung neuer Modelle der Selbstständigkeit und Eigenverantwortung ... zur Weiterentwicklung des Schulwesens“. Von vornherein mitzudenken ist dabei nach den legislatorischen Absichten die erwähnte funktionale Verknüpfung von Selbstständigkeit und Qualitätsvorsorge: Es soll systematisch erprobt werden, „wie durch eine eigenverantwortliche Steuerung der Schulen die Qualität von Unterricht und Erziehung und damit die Qualität schulischer Arbeit verbessert werden kann“. So die Gesetzesbegründung, in der damit ein genauerer Versuchszweck benannt wird, welcher der Sache nach überall maßgeblich sein soll – hat er so aber auch in den Gesetzestext Eingang gefunden? Das ist überraschenderweise nicht der Fall.

Den Qualitätsbegriff führt man allerdings heute auch in Nordrhein-Westfalen überall im Munde, er ist im politischen Raum geradezu zum Modewort geworden. Qualitätssicherung soll nach den zitierten Verlautbarungen auch für das hiesige Autonomieprojekt zum Thema Nummer eins werden. Der schulische Qualitätsbegriff weist indes „nach PISA“ beträchtliche Unschärfen auf, er ist in vielem umstritten und klärungsbedürftig. Also wäre ein Gesetzgeber, welcher das Gesetz als „zentrales Steuerungsinstrument des Rechtsstaates“ (Schuppert) versteht und von Verfassungs wegen verstehen muß, doch wohl gut beraten, sich hier stärker ins Zeug zu legen. Er sollte nicht nur auf irgendwelche prozeduralen und diskursiven Effekte innerhalb von Netzwerken setzen, auf Aushandlung und Selbstdefinition vor Ort vertrauen usw., sondern er sollte auch selbst tätig werden und bestimmte rahmenartige Qualitätsstandards vorzugeben versuchen. Gewiß darf der Parlamentsvorbehalt bei Versuchsgesetzen nicht überstrapaziert werden. In diesem für das Wohl und Wehe des Vorhabens entscheidenden Punkt hätte der Gesetzgeber aber doch wohl von vornherein genauer werden sollen (und nicht erst – dann vielleicht aus schlechten Erfahrungen klug geworden – in ein paar Jahren). Dafür gibt es auch bereits interessante Vorbilder in anderen Ländern, insbesondere in dem Senatsentwurf eines neuen Schulgesetzes für Ber-lin und im geltenden Brandenburgischen Schulgesetz.

2.5  Das curriculare Aktionsfeld

Regulierte Selbstregulierung im Sinn des Art. 1 SchEntwG soll auf einigen dort im Text kurz angesprochenen konkreten Arbeitsfeldern stattfinden, welche dann in Gesetzesbegründung und Versuchsverordnung etwas ausführlicher behandelt werden. Das curriculare Aktionsfeld „Unterrichtsorganisation und -gestaltung“ wird dabei im Gesetz nicht an erster, sondern an vierter Stelle genannt. Am Anfang stehen im Gesetz vielmehr personelle und finanzielle Reformschritte, die von den politischen Akteuren und Verwaltungspraktikern ursprünglich als vordringlich angesehen wurden und als obligatorische Versuchselemente ausgewie-sen worden sind. Ich folge indessen dem geänderten Aufbau in der Versuchsverordnung und berichte zunächst über die Freiheitsmarge der Modellschulen in Curriculumangelegenheiten.

Abweichungen von curriculumrelevanten Rechtsvorschriften, wie sie die gesetzliche Öffnungsklausel zuläßt, sind nach § 2 Abs. 1 VOSS möglich in folgenden Punkten: bei der Bildung von Lerngruppen; bei der zeitlichen und örtlichen Organisation des Unterrichts; bei den Formen der äußeren Differenzierung; bei den Vorgaben der Richtlinien, Lehrpläne und Stundentafeln, „soweit die grundlegenden Anforderungen des jeweiligen Bildungsganges eingehalten werden“; bei der Ausgestaltung der Leistungsbewertung und der Bescheinigung der Leistun-en mit Ausnahme von Abschluß-, Überweisungs- und Abgangszeugnissen sowie der Abiturprüfung; bei dem Übergang in eine höhere Klasse oder Jahrgangsstufe. Dabei muß, wie es weiter heißt, gewährleistet sein, daß die Abschlüsse „auf Grund vergleichbarer Anforderungen wie an anderen Schulen“ erworben werden, und die bundesweite Anerkennung der Abschlüsse muß gesichert sein.

Nach Durchführung der notwendigen Qualifizierungsmaßnahmen und nach dem Aufbau der erforderlichen Beratungs- und Unterstützungsstrukturen kann die jeweilige Schule nach diesem Konzept grundsätzlich selbst entscheiden, ob und inwieweit sie die so eröffneten Spielräume in Anspruch nehmen will. Darüber ist nach Beratung der Schule mit der oberen Schulaufsichtsbehörde durch Beschluß der Schulkonferenz, für den eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist, zu entscheiden. Der Beschluß bedarf nicht der Zustimmung der oberen Schulaufsichtsbehörde, sondern er ist ihr nur anzuzeigen (§ 2 Abs. 3 VOSS).

2.6  Qualitätssicherung

Mit den eben wiedergegebenen Regelungen wird den Versuchsschulen ein hohes Maß an curricularer Verselbstständigung und Emanzipation von der Schulaufsicht zugestanden. Die staatliche Schulhoheit wird demgemäß aufgelockert und weitgehend umgeformt, sie wird wesentlich auf Beratungs- und Förderungsaufgaben umgestellt und behält im übrigen nur noch eine qualitätsorientierte „Gewährleistungsverantwortung“ (ein Kennwort in der Debatte über regulierte Selbstregulierung). Mit älteren, bürokratischen Vorstellungen von Schulaufsicht als „administrativer Schulherrschaft“ hat dies nichts mehr zu tun.

Aus der curricularen Neuorientierung erwachsen allerdings auch neuartige Steuerungs- und Kontrollprobleme, wobei neben schulischer Selbststeuerung immer auch eine sekundäre staatliche bzw. zivilgesellschaftliche Fremdsteuerung eine Rolle spielen wird. In der Versuchsverordnung wird diese Thematik – zu der sich der Gesetzgeber verschwiegen hat – zunächst unter der Rubrik „Qualitätssicherung“ angesprochen: „Um die Durchführung und den Erfolg der schulischen Arbeit zu sichern“, legt die obere Schulaufsichtsbehörde im Benehmen mit der Schule und unter Berücksichtigung der von ihr in Anspruch genommenen Freiräume „geeignete Verfahren der Qualitätssicherung und der Rechenschaftslegung“ fest (§ 2 Abs. 3 Satz 1 VOSS). Dabei gilt die Vergabe von Abschlüssen als besonders empfindlicher Punkt.

In den VOSS-Vorbemerkungen wird dazu etwas mehr gesagt. Danach soll die Kontrolldichte um so höher sein, je größer die jeweils von der Schule beanspruchte Freiheitsmarge ist. Auch wird angedeutet, daß die Kontrollmaßstäbe etwas mit Schüler- und Elterngrundrechten zu tun haben, insbesondere mit dem „Anspruch auf Erziehung und Bildung“, wie er in Art. 8 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen (VerfNW) ausdrücklich garantiert wird. Auch hier bleibt es indessen dabei, daß die normativen Dimensionen der Qualitätsfrage nur gestreift werden. Der gesamte Themenkomplex bleibt noch unterbelichtet und unentwickelt, gerade auch in juristischer Hinsicht.

2.7  Dezentrale Ressourcenverantwortung

Eine experimentelle Verselbstständigung der an dem Projekt beteiligten Einzelschulen soll nach der gesetzlichen Öffnungsklausel auch bei Personalverwaltung, Stellen- und Sachmittelbewirtschaftung Platz greifen. Nach Art. 1 Abs. 4 Satz 1 SchEntwG können Land und Schulträger den Modellschulen auf dem Boden der jeweiligen Kooperationsvereinbarung Stellen, Personal- und Sachmittel im Rahmen eines einheitlichen Budgets zur selbstständigen Bewirtschaftung zur Verfügung stellen. Auch mit der Einräumung dezentraler Ressourcenverantwortung sollen die Handlungsspielräume der Schulen erweitert werden. Es soll ihnen ermöglicht werden, ihr Budget mit Unterstützung der Schulaufsicht und der kommunalen Schulverwaltung selbst zu verwalten, zu planen und dabei Prioritäten je nach den curricularen Erfordernissen zu setzen.

2.8  Stärkung der Schulleitung

In diesem Zusammenhang wird auch eine Veränderung der Rolle der Schulleitungen als notwendig angesehen. Sie sollen das Schulbudget vollziehen, überwachen und kontrollieren. Die Übertragung der Kompetenzen zur Verfügung über Stellen und ein schrittweise aufzubauendes Personalmittelbudget erfordern nach der Gesetzesbegründung, daß wesentliche Aufgaben des Dienstvorgesetzten von der Schulaufsicht auf die Schule übertragen und hier vom Schulleiter wahrgenommen werden. So ist der Schulleiter nach Art. 1 Abs. 2 Satz 1 SchEntwG i.V.m. § 4 VOSS von einem in der Kooperationsvereinbarung festzulegenden Zeitpunkt an, spätestens in der zweiten Versuchshälfte, Dienstvorgesetzter der Lehrer in bestimmten in der Verordnung im einzelnen aufgeführten beamten-, tarif- und vergütungsrechtlichen Angelegenheiten (teils obligatorisch, teils fakultativ), beginnend mit der Lehrereinstellung vor Ort. Damit kommt auf Schulen und Schulleiter eine Vielzahl neuer Verwaltungstätigkeiten zu. Versuchsgegenstand ist auch die Frage, welche Unterstützungs- und Beratungsstrukturen dafür inner- und außerhalb der Schule notwendig sind und wie alles dies zu finanzieren ist.

2.9  Mehr Selbstgestaltungskräfte für Schulmitwirkung und Personalvertretung, Stärkung des Lehrerrats

Im Zuge des Modellversuchs kann den beteiligten Schulen der Öffnungsklausel zufolge auch Gelegenheit gegeben werden, neue Modelle der Schulmitwirkung und der Personalvertretung auszuprobieren. Dabei soll erprobt werden, ob und wie durch eine veränderte Beteiligung von Eltern, Lehrern und Schülern an den Entscheidungsprozessen eine stärkere Identifikation mit den Zielen der einzelnen Schule und eine größere Zufriedenheit mit der schulischen Situation erreicht werden können. Auch scheint der Gesetzgeber an eine Art partizipatorisches Gegengewicht zu der stärker werdenden Schulleitung zu denken.

Was zunächst die Schulmitwirkung betrifft, so können die Modellschulen nach § 3 VOSS Zusammensetzung, Wahlen, Aufgaben und Geschäftsordnungen der Mitwirkungsorgane verändern und neue, den gesetzlichen Lösungen „gleichwertige“ Varianten der inneren Schulverfassung erproben. Auf ein Beispiel aus den Zeiten der Protestbewegung wird in den VOSS-Vorbemerkungen in verklausulierter Form hingewiesen: Auf Kosten der bisherigen Lehrer-Halbparität könnten in der Schulkonferenz größere Schüler- bzw. Elternanteile vorgesehen werden.

Besser kommt die Lehrerseite im Bereich der Personalvertretung weg. Hier wird davon ausgegangen, die Verlagerung beteiligungspflichtiger Aufgaben des Dienstvorgesetzten auf die Schulleitung erfordere es, daß an entsprechenden Maßnahmen eine Lehrervertretung an der jeweiligen Schule beteiligt werde. Diese Internalisierung soll nach Art. 1 Abs. 2 Sätze 2 ff. SchEntwG i.V.m. § 5 VOSS dadurch bewirkt werden, daß der Lehrerrat an die Stelle des Personalrats tritt. Insoweit findet also eine Entthronung der externen Personalräte statt, und diese werden von integrierten, innerschulisch aufgewerteten Lehrerräten beerbt, denen ein schulspezifisch abgewandeltes personelles Mitspracherecht zusteht. Die Lehrerräte bleiben hiernach Organe der Schulmitwirkung, sie wenden aber – zum Teil analog – auch Normen des Personalvertretungsrechts an und werden mit ihren neuen Kompetenzen der Schulleitung als eine Art innerschulische Per-sonalräte gegenübergestellt. Das ist eine moderate Lösung, die im Parlament erst nach längeren Auseinandersetzungen mehrheitsfähig geworden ist. Der Reformansatz war und ist manchen Gewerkschaftern und Sozialdemokraten nicht ganz geheuer, was sich in Gesetz und Verordnung in ungewöhnlichem Wortreichtum niedergeschlagen hat.

Im übrigen beschränkt sich diese spezifische Lehrermitwirkung wohlgemerkt auf (für Erziehung und Unterricht mittelbar relevante) Personalangelegenheiten. Um schulische Struktur- und Funktionsprobleme auch direkt aufgreifen und gestalterisch beeinflussen zu können, wird sich die Lehrerseite insbesondere in der Schulkonferenz engagieren und durchsetzen müssen. Wenn sie das nicht vermag und sich statt dessen in die Defensive drängen läßt, kann das freilich dazu führen, daß ihr ideelles und schließlich auch ihr zahlenmäßiges Gewicht in dem Grundorgan geringer wird. Lehrer-Professionalismus ist in dieser Versuchsanordnung eben nicht mehr eo ipso in der Vorhand. Sehe ich recht, daß er hier etwas stiefmütterlich behandelt wird?

2.10  Kooperativer Staat, subregionale Netzwerke

Nach alledem ist dieses experimentelle Design, was seine rechtlichen Grundlagen betrifft, recht unterschiedlich ausgefallen. Bald finden sich ansprechende und auf Anhieb überzeugende, sorgfältig elaborierte Regelungen, bald wirkt das Normenwerk aber auch weniger gelungen, es weist auch schwächere Partien und erhebliche Lücken auf. Juristisch gesehen scheint das Modellvorhaben nicht auf einem hinlänglich ausgefeilten Konzept zu beruhen. Eines steht aber jedenfalls fest: Der Staat lockert hier die Zügel beträchtlich, über alles auf dem öffentlichen Sektor bisher Bekannte hinaus.

Allerdings gibt es nach wie vor Verfassungsbestimmungen wie die des Art. 7 GG und der Art. 7 und 8 VerfNW, also kann der Staat die Hände nicht in den Schoß legen, er kann die Dinge nicht einfach treiben lassen. Er kann beispielsweise nicht auf neue zivilgesellschaftliche Bildungsinitiativen vertrauen, ohne deren Emporkommen tatkräftig zu fördern. Er kann öffentliche Schulen auch nicht kurzerhand – nicht einmal probeweise – einer beliebigen Privatisierung und Marktsteuerung anheimgeben, denn daraus könnten nur zu leicht dysfunktionale Verläufe und neue Abhängigkeiten hervorgehen. Etwas Staat und etwas Recht sind allemal vonnöten, auch bei regulierter Selbstregulierung.

Was tut also ein Staat, welcher letzteren „weichen“ Regulierungsmodus erproben will? Er verwandelt sich sozusagen versuchsweise vom herrschaftlich-hoheitlichen in den „kooperativen“ und „aktivierenden Staat“ (wiederum Kennwörter der neueren Steuerungsdiskussion). Wo er bisher mit Gesetzen und Verordnungen, Verwaltungsvorschriften und Verwaltungsakten usw. gearbeitet hat, schließt er jetzt vorzugsweise Kooperationsverträge ab. An zwingendem Recht stellt er nur noch das Nötigste bereit, nämlich einen mehr oder minder festen und funktionstüchtigen Rahmen für dezentrale Selbststeuerungsprozesse. Wenn er gut beraten ist, sucht er die einzelnen teilweise autonomisierten früheren „Staatsschulen“ auch in unterstützende lokale bzw. subregionale Netzwerke einzubeziehen, wie sie in dem Vorversuch „Schule & Co.“ bereits unter dem Namen „Regionale Bildungslandschaft“ entwickelt worden waren. Auch dabei wird der Staat sich allerdings darum kümmern müssen, daß sich die richtigen Partner zusammenfinden und daß die gewünschte Qualitätsorientierung tatsächlich Platz greift. Er wird auch darauf zu achten haben, daß dabei nicht irgendein Schlendrian einreißt und daß es nicht zu neuen Stillständen und Vermachtungen kommt. Wie sieht es damit nun in unserem Großprojekt aus?

In Schulentwicklungsgesetz und Versuchsverordnung bleibt dieser Fragenkom-plex noch ganz vage. In den Normtexten wird des öfteren von den Kooperationsvereinbarungen gesprochen, ihnen werden, wie gezeigt, wesentliche sekundäre Regulierungsfunktionen zugedacht – diesbezügliche inhaltliche und prozedurale Detailfragen werden aber so gut wie gar nicht geklärt. Auch die Gesetzesbegründung bleibt insoweit lakonisch. In ihr heißt es etwa, wichtig sei die Beratung und Unterstützung der Modellschulen durch Schulträger und Schulaufsicht, das solle in den Kooperationsvereinbarungen zum Ausdruck kommen. In diesem Zusammenhang ist auch von unterstützenden „regionalen Netzwerken“ und von einem dafür einzurichtenden, u.a. aus staatlichen Mitteln zu speisenden „Innovationsfonds“ die Rede. Konkretisierende Regularien wollte man wohl großenteils „gesetzesfrei“ entwickeln und der Projektbeschreibung sowie den Kooperationsverträgen vorbehalten. Erst Mitte 2002 wurde dann vom Schulministerium jener formularmäßige Mustervertrag ins Netz gestellt, welcher nähere Aufschlüsse über die für diese Vereinbarungen vorgesehenen Modalitäten erbrachte. (Sie finden ihn in den verteilten Materialien, die vielleicht nachher in Diskussion einbezogen werden könnten.)

2.11  Das Engagement der Bertelsmann-Stiftung

Laut Mustervertrag handelt es sich bei den Kooperationsvereinbarungen um „Rahmenvereinbarungen“ zwischen der jeweiligen Schule, ihrem kommunalen Träger, dem Land Nordrhein-Westfalen und der von der Bertelsmann-Stiftung gestellten Projektleitung. Die Gütersloher Stiftung betritt hier die wabernde rechtliche Szene gewissermaßen als regulatorischer Deus ex machina.

In Gesetz und Verordnung steht über die Stiftung kein Wort. Sie wird aber nun vertraglich als eine Art sachkompetenter Promoter und Mitregulierer eingesetzt und soll dem Land weiterhelfen, wo dessen Kräfte nicht mehr auszureichen scheinen. Vor allem soll sie die Erfahrungen und die Expertise, die sie bereits bei der Durchführung von „Schule & Co.“ gewonnen hat, in den neuen Großversuch einbringen, und zwar über eine weitere Public-Private-Partnership. Der kooperative und aktivierende Staat betätigt sich diesbezüglich als „Netzwerkarchitekt“ und „Netzkoordinator“. Er geht im näheren dahingehend zu Werke, daß auf Landesebene sozusagen ein informales öffentlich-privates Kondominium entsteht und daß unterhalb davon ein Geflecht von weiteren Absprachen und gemischten Gremien geschaffen wird, mit denen den Modellschulen beigestanden und innovativ auf die Sprünge geholfen werden soll. Man will die Schulen mittels folgender Infrastruktur – wohlgemerkt durchweg „gesetzesfrei“! – zur qualitätsorientierten Selbstregulierung anleiten:

Unter der politischen Verantwortung des Schulministeriums nehmen Ministerium und Bertelsmann-Stiftung das zentrale Projektmanagement gemeinsam im Rahmen eines paritätisch besetzten Projektvorstands mit weitreichenden Entscheidungsbefugnissen wahr. Hinzu tritt ein beratender Projektbeirat, welcher aus politischen und administrativen Akteuren, Stiftungs- und Verbandsvertretern sowie Wissenschaftlern zusammengesetzt ist. Die Alltagsgeschäfte der zentralen operativen Steuerung obliegen einem von Land und Stiftung bestellten, mit beträchtlichen Kompetenzen ausgestatteten Projektleiter und einem Projektbüro mit Hauptsitz in Gütersloh. Als gebietsmäßige Substrukturen bestehen achtzehn „Modellregionen“, in denen die dortigen Projektaktivitäten jeweils von einer aus Vertretern von Schulen, Schulträger(n) und Schulaufsicht bestehenden „regionalen Steuergruppe“ unterstützt und koordiniert werden, einschließlich des Ressourceneinsatzes. Auf dieser mittleren Ebene werden auch die erwähnten „Bildungs-” oder „Schullandschaften“ und horizontalen Netzwerke (auch von Schule zu Schule) entwickelt. Und schließlich soll möglichst auch innerhalb jeder einzelnen Modellschule eine „schulische Steuergruppe“ entstehen und den Emanzipierungsprozeß voranbringen – bei günstigem Verlauf mit dem Erfolg, daß sich all die externen Regulierer und Steuerer schließlich zurückziehen können: Die Schule hat dann selbstständig ihren Weg zu gehen gelernt.

2.12  Selbstständige Schule – immer noch pädagogisch rechtlos?

Eben konnte berichtet werden, daß die einzelne Schule auch Partner des jeweili-gen Kooperationsvertrags wird. Welches ist dabei, und im Rahmen des Modellversuchs überhaupt, eigentlich ihr rechtlicher Status? Wie es im Gesetzentwurf heißt, wird die Kooperation im Detail ausgestaltet in Vereinbarungen „zwischen dem Land und den Schulträgern, die sich mit Schulen beteiligen wollen“; eine Beteiligung von Schulen ohne Zustimmung des Schulträgers sei ausgeschlossen. Das wird routinierten Schulrechtlern nicht weiter überraschend erscheinen, Nichtjuristen werden darüber allerdings ins Grübeln kommen.

In der Tat zeigt sich an dieser Stelle eine Eigenheit und elementare Schwäche des deutschen Schulrechts, welche noch auf dessen obrigkeitsstaatlicher Vorgeschichte beruht. Sie wird in unserem Gesetz auch in anderem, schulökonomisch-finanzrechtlichem Zusammenhang erkennbar: Die Schulen sollen auch bei der selbstständigen Bewirtschaftung ihres Budgets „nichtrechtsfähige öffentliche Anstalten ihres Schulträgers“ bleiben. So steht es bisher über die öffentlichen Schulen generell in § 6 SchVG geschrieben, und dabei soll es auch im Zuge dieses großen Modernisierungsexperiments bleiben. Mag die Einzelschule jetzt auch pädagogisch-faktisch zur Selbstständigkeit avancieren – in puncto Rechtsfähigkeit bleibt das eine bloße Redeblume, ein selbstständiger „Rechtscharakter“ der Einzelschule ist nicht vorgesehen. Diese „Selbstständige Schule“ soll eben rechtlich gesehen eine unselbstständige Schulanstalt in der Hand ihres Trägers bleiben. Was bedeutet das Paradox für das Autonomisierungskonzept im gan-zen?

Es geht dabei nicht nur um die Fähigkeit der einzelnen Schule, im eigenen Namen irgendwelche öffentlich-rechtlichen bzw. privatrechtlichen Verträge zu schließen. Viel wichtiger ist die Frage, ob Versuchsgegenstand (und ggf. Inhalt einer späteren Dauerregelung) auch eine juristisch hieb- und stichfeste, mit Rundumwirkung versehene gesetzliche Garantie pädagogischer Selbstständigkeit der Schule innerhalb des funktionalen Kernbereichs von Erziehung und Bildung sein soll – eine Frage, wie sie in der deutschen Schulrechtswissenschaft schon seit fünfzig Jahren in der Debatte über „pädagogische Freiheit“ hin- und hergewendet wird. Zu einer klaren Antwort auf diese Grundfrage hat sich der Gesetzgeber aber auch in Nordrhein-Westfalen noch nicht durchringen können. Es bedarf schon einiger Auslegungskunst, um in thematisch irgendwie einschlägigen Normen wie derjenigen des § 14 Abs. 3 Satz 2 SchVG – wonach die Schulaufsicht „die pädagogische Selbstverantwortung zu pflegen“ hat – eine pädagogische Freiheit als subjektives Funktionsrecht der Einzelschule zu entdecken und ihr eine entsprechende öffentlich-rechtliche Teilrechtsfähigkeit zuzuerkennen. Letzteres würde zugleich bedeuten, daß die in § 14 Abs. 3 SchVG vorgesehene Fachaufsicht insoweit rechtlich begrenzt, d.h. in eine bloße Rechtsaufsicht umgewandelt wäre – ist das aber wirklich der Fall?

Wie hier eine Klärung herbeizuführen und wie zu funktionsgerechten und präzisen expliziten Abgrenzungen zu gelangen ist, wäre sicherlich ein lohnender Versuchsgegenstand. In diesem Zusammenhang könnten dann auch die neuen Beratungs- und Förderungsaufgaben der Schulaufsicht probeweise rechtlich entfaltet werden. So weit sind wir aber in Nordrhein-Westfalen noch nicht. Weder von § 6 noch von § 14 SchVG gibt es einen ausdrücklichen VOSS-Dispens, positive Alternativen werden nicht entwickelt, das Thema wird nicht weiter erschlossen. Das Ganze bleibt eine Auslegungsfrage. Die Lage ist mithin unübersichtlich. Und wir befinden uns hier an einem entscheidenden Punkt, denn es geht um folgendes grundsätzliche Problem:

Die Schule soll jetzt an externe Lebenswelten näher heranrücken. Sie soll sich mehr als bisher nach außen orientieren und sich um Kontakt und Zuwendung bemühen. Das soll sie aus pädagogischen Gründen tun, und zwar in pädagogisch angemessenem Umfang. Dabei bekommt sie es nun mit vielerlei heteronomen oder jedenfalls mehrdeutigen Erwartungen und Einwirkungen zu tun, zum Beispiel mit unterschiedlichen Qualitätsvorstellungen, Leistungsbegriffen, Ergebnisinteressen – wie kann sie dazu so viel Nähe und so viel Distanz halten, wie es der wohlverstandene normative, an nächster Stelle von ihr selbst zu interpretierende und zu konkretisierende Erziehungs- und Bildungsauftrag bedingt? Wie kann sich die einzelne Schule innerhalb des umgebenden Milieus mit seinen vielfältigen Beanspruchungen funktionell behaupten? Wie kann sie beispielsweise den PISA-Schock heil überstehen und einem etwaigen überschießenden, dysfunktionalen „Nach-PISA-”Trimming standhalten? Wie kann sie eine Instrumentalisierung vermeiden, derzufolge sie als eigenständige Bildungseinrichtung nach und nach verschwinden und von fremden Abnehmer- und Nutzerinteressen in Beschlag genommen werden würde? Wie kann sie sich andererseits vor innerer Bequemlichkeit, Lahmheit, Verkrustung schützen? Wie kann sie dieses komplexe Identitäts- und Zuordnungsproblem selbst in Angriff nehmen? Wie kann sie es als ihr ureigenes konstitutives Problem, und zwar auch als Rechts- und Verfassungsproblem, stellen und bearbeiten? Wie kann sie überhaupt zu jenem rechtsrelevanten „Selbst“ kommen, ohne das eine rechtlich elaborierte Selbstregulierung nun einmal nicht denkbar ist?

Wenn wir in diesem Punkt weiterkommen wollen, muß die Selbstständige Schule endlich auch als Schulrechtskonstrukt formuliert und als schulrechtliches Konstituierungsproblem und Versuchsthema wahrgenommen werden. Und das wird sich leichter anlassen, wenn man sich zugleich an gewisse ältere bildungstheoretische Bemühungen um die Autonomiefrage erinnert und wenn man diese Frage – daran anknüpfend – auch als schultheoretische Kategorienfrage zu stellen und rechtlich umzusetzen vermag. Denn in der Autonomiefrage als Kategorienfrage war die Diskussion früher schon einmal weiter. Manchmal könnte man meinen, heutige Düsseldorfer und Gütersloher Akteure wüßten davon nichts mehr, sie seien der Problematik nicht mehr gewachsen oder hätten einfach keine Lust mehr, sich damit näher zu befassen; statt dessen suchten sie mit Stückwerkstechnik und Durchwursteln zum Ziel zu kommen. Nicht ganz fern liegt im übrigen der Verdacht, hier mache sich auch noch etwas von dem klassisch-bürokratischen Habitus älterer Ministerialverwaltung bemerkbar: Den Modellschulen eine organisationsrechtlich relevante (Teil-)Autonomie einzuräumen, gelte als zu riskant; lieber bleibe man bei der ungeschmälerten fachaufsichtlichen Durchgriffsbefugnis, dies jedenfalls hilfsweise für den Fall, daß aus Verwaltungssicht vor Ort etwas schiefgehe. Es gibt in den Versuchsmaterialien allerdings auch gegenteilige, pädagogisch aufgeklärtere Äußerungen und Argu-mente, und sie sind wohl in der Überzahl – nur fehlt es dabei noch an Konsequenz und Nachdruck.

3  Vorläufiges Fazit

Ansatzweise – eher nur außerrechtlich – ist obige positionale, Distanz und Nähe betreffende Fragestellung (relative Autonomie?) in den Versuchsmaterialien oftmals präsent. Sie geht dann allerdings auch wieder verloren, etwa indem in naiver Weise vom wirtschaftlichen Nutzen schulischer Selbstständigkeit die Rede ist. Immerhin wird sich sagen lassen: Daß es hier auch ein systemisches Emanzipierungsproblem gibt und daß die öffentliche Schule von ihrer Umwelt nicht instrumentalisiert und aufgesogen werden sollte, wird in NRW-Optik in der Regel gesehen. Man will ja den Gesichtspunkt der Qualitätsvorsorge mit dem Autonomiegesichtspunkt verbinden – ein origineller und mutiger Ansatz, er versteht sich keineswegs von selbst. Der älteren Autonomiedebatte war er noch nicht geläufig. Freilich liegt in dieser Koppelungsidee auch die Hauptschwierigkeit beschlossen, und daraus kann geradezu eine Gratwanderung werden.

„Nach PISA“ sollen ineffiziente und immobile, beschaulich-provinzielle Verhältnisse nicht mehr länger geduldet werden, man will die Schulen möglichst auf Trab bringen, aktivieren, qualifizieren usw. Ihre Selbstständigkeit darf also nicht so groß werden, daß sie den Modernisierungsprozeß kurzerhand verweigern und abblocken können. Auf der anderen Seite muß ihr Gestaltungsspielraum aber doch so großzügig bemessen werden, daß die Reformidee innerschulisch zündet und daß der gedachte Entwicklungsprozeß auch von innen heraus in Gang kommt. Darauf soll auch die Rahmenregulierung angelegt sein: „wind of change“ soll aufkommen, Lernbereitschaft soll entstehen, die Modellschule soll sich als handlungsfähige Größe konstituieren und pädagogisch erneuern – aber eben nicht gezwungenermaßen, sondern im Wege der (regulierten) Selbstregulierung.

Das ist ein ansprechender, durchaus attraktiver Grundgedanke. Zu wünschen bleibt allerdings, daß er noch genauer und gründlicher ausgearbeitet werden möge. Er sollte insbesondere schultheoretisch weiter substantiert werden (wofür ein Blick in die erwähnten älteren Schriften nützlich wäre), und er sollte auch schulrechtlich umgesetzt, präzisiert, zugespitzt werden. Dadurch könnte das Ganze an Stabilität gewinnen. Daran kann auch im Lauf des Versuchs weitergearbeitet werden, nicht zuletzt im Blick auf die angekündigte spätere Dauerregelung. Eine pädagogisch tatsächlich selbstständige, aber rechtlich unfreie und gewissermaßen subjektlose, „nichtrechtsfähige“ Schule – das wäre nur eine halbe Lösung. Es wäre kein wirklich überzeugendes Reformziel. Und so etwas bleibt den Beteiligten nicht verborgen. Das mag auch einer der Gründe dafür sein, daß dies bisher ein so mühsamer Weg war. Vielleicht kommt man in der jetzigen operativen Phase leichter voran, wenn es hier noch Fortschritte gibt.

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