E. Beitrag zu der gemeinsamen Jahrestagung der Fachgruppe Kommunikation und Politik der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und des Arbeitskreises Politik und Kommunikation der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft über „Europäische Union und europäische Öffentlichkeit“ am 8.2.2002 in Nürnberg: Medienfreiheit in der EU nur „geachtet“ (Art. 11 Grundrechtscharta) – Nachbesserung im Verfassungskonvent?

I. Der Grundrechtskonvent

1. Zusammensetzung und Aufgabenstellung

Auf deutsche Initiative beschloß der Europäische Rat – das oberste EU-Organ, dem die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten und der Präsident der Kommission angehören (Art. 4 EUV) – 1999 in Köln die Ausarbeitung einer Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Dafür setzte der Rat ein neuartiges ad-hoc-Gremium ein, das nach einem wenig später auf dem Gipfel von Tampere gefaßten Beschluß aus 16 Mitgliedern des Europäischen Parlaments und 30 Mitgliedern der nationalen Parlamente sowie 15 Beauftragten der Staats- und Regierungschefs und einem Vertreter der Kommission bestand. Der Europäische Rat beauftragte dieses Gremium (nach dessen eigenem, hernach allgemein akzeptiertem Sprachgebrauch: „Konvent“), einen Charta-Entwurf vorzulegen, welcher an den derzeitigen menschen- und grundrechtlichen Sachstand laut Art. 6 Abs. 2 EUV anknüpfen und ihn kodifikatorisch aufarbeiten und implementieren sollte. Im Mittelpunkt sollten dabei die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten als „allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts“ stehen. Außerdem sollten bestimmte in der Europäischen Sozialcharta und in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer enthaltene wirtschaftliche und soziale Rechte berücksichtigt werden. Dabei spielte – insbesondere auf deutscher Seite – auch die Vorstellung eine Rolle, dabei könnte es sich bereits um den Grundrechtsteil einer künftigen Europäischen Verfassung handeln. Der Grundrechtskonvent trug denn auch schon gewisse Züge einer staatsunmittelbar legitimierten Europäischen Verfassunggebenden Versammlung.

2. Öffentlichkeit: Ein gelungenes Experiment

Der Konvent tagte im Jahre 2000 unter Vorsitz des Verfassungsrechtsexperten und früheren deutschen Bundespräsidenten Prof. Dr. Roman Herzog in Brüssel. Die Beratungen waren vor Ort öffentlich, und die wesentlichen jeweils vorbereitenden Dokumente wurden per Internet allgemein zugänglich gemacht. Der Konvent stellte auch eine E-Mail-Adresse zur Verfügung, über die externe Nutzer mit ihm Kontakt aufnehmen konnten. Derartige Beiträge wurden über die Konvents-Website ebenfalls der Allgemeinheit zugänglich gemacht. So ergab sich ein die Beratungen der Versammlung begleitendes europaweit-vielsprachiges, inhaltlich breit gefächertes öffentliches „Consilium“ von Stimmen aus Politik, Verbänden, Bürgergesellschaft und Fachwelt – ein in dieser Form bislang einzigartiges, überraschend gut gelungenes Experiment mit einer medienvermittelten, der Sache nach bereits prä- oder frühkonstitutionellen europäischen Öffentlichkeit. Man hörte nicht auf die Unkenrufe, nach denen es einen solchen staatenübergreifend-politischen öffentlichen Raum in Europa schlechterdings nicht geben kann, und man machte damit in der Praxis in unbefangener Weise den Anfang – und siehe da: Es ergab sich wie von selbst ein großer Schritt vorwärts.

3. Das sog. Ratsverfahren

Herzog als einem mit viel Autorität und Erfahrung ausgestatteten, nach Insider-Berichten deutlich dominierenden Präsidenten standen im Grundrechtskonvent ein fünfköpfiger Redaktionsaussschuß (Präsidium) und ein supranationaler, hochqualifizierter interner Beraterstab mit erheblichen deutschen Anteilen zur Seite. Der Konvent arbeitete nach dem sog. Ratsverfahren, welches keine Einzelabstimmungen kennt und Präsident bzw. Präsidium eine überaus starke, oftmals ausschlaggebende Position verschafft. Das lockere, nicht einmal in einer Geschäftsordnung o.ä. förmlich fixierte Reglement wurde von Herzog dahin gehandhabt, daß er seine Kompetenzen geschickt nutzte, aber nicht autokratisch betätigte und überzog. Immer wieder brachte er relativ breite Dispute in Gang und moderierte sie behutsam-ergebnisorientiert. So konnte er erreichen, daß sich die – anfangs sehr disparaten und buntscheckigen – Diskussionsbeiträge der Konventsmitglieder inhaltlich nach und nach aneinander annäherten. Die Resultate schrittweise möglichst konsensfähig auszuformulieren, blieb dann jeweils Präsidium/Sekretariat vorbehalten. Auf diese Weise stellte der Konvent binnen weniger Monate einen Entwurf fertig, welcher Kompromißcharakter hatte und – neben gut gelungenen Partien – noch manche Schwächen und Halbheiten aufwies. Er erhielt nun aber doch viel Lob und erfreute sich breiter Akzeptanz. Eine mit einer Art informeller Abstimmung oder Meinungsbild verbundene festliche Schlußmanifestation erbrachte im Konvent am 2.10.2001 schließlich fast Einmütigkeit.

4. Die Deklaration von Nizza

Der Konventsentwurf wurde auch außerhalb des Gremiums allerseits akzeptiert. Die Grundrechtscharta wurde von Rat, Parlament und Kommission am 7.12.2000 in Nizza feierlich verkündet, dies zum Auftakt einer Regierungskonferenz über institutionelle Reformfragen, welche dann kontrovers und außerordentlich zäh und mühsam verlief. Der Charta mochten die in Nizza versammelten Staats- und Regierungschefs zunächst nur den Status einer politischen Deklaration zubilligen. Ob und wie sie auch rechtsverbindlich gemacht werden könnte, wollte man erst noch in weiteren Verhandlungen klären. Diese und andere in Nizza offengebliebene Konstitutionalisierungsfragen sollten im Zuge des sog. Post-Nizza-Prozesses weiter erörtert werden. Um die bisherigen gouvernementalen Beengtheiten zu überwinden, beschloß man auf deutsches Betreiben, „eine umfassende Debatte mit allen interessierten Parteien ein(zu)leiten, mit Vertretern der nationalen Parlamente sowie aller Kreise, die die öffentliche Meinung widerspiegeln: Vertreter aus Politik, Wirtschaft und dem Hochschulbereich, der Zivilgesellschaft usw.“ Man gedachte also wiederum eine deliberative europäische Öffentlichkeit à la Grundrechtskonvent zu aktivieren. Man versprach sich davon neue integrative Impulse und erhoffte sich wohl, daß diese einer für 2004 vorgesehenen weiteren Regierungskonferenz über Fragen der EU-Reform zum Erfolg verhelfen würden.

II. Das EU-Mediengrundrecht

1. “Die Freiheit der Medien”: A Star is Born

Hinsichtlich der Kommunikationsgrundrechte hatte es in den Charta-Entwürfen zunächst sein Bewenden bei den – mit deutschen verfassungsrechtlichen Standards verglichen – undifferenzierten und veralteten Minimalgarantien des (1950 entstandenen) Art. 10 EMRK. Unter der Überschrift „Freiheit der Meinungsäußerung“ handelt jener Artikel ausführlich und etwas umständlich von Meinungs- und Informationsfreiheit, er kennt und benennt aber noch keine hiervon verschiedene, eigenständige Medienfreiheit. Das erklärt sich wie folgt:

Die Verfasser der Konvention betrachteten die Medienfreiheit noch – wie es damals üblich war – als einen unselbständigen, implizit mitgarantierten instrumentellen Annex der allgemeinen Äußerungsfreiheit. Das war ein frühes Konzept von Kommunikationsfreiheit als einem „einheitlichen“, auf die individuelle Meinungsäußerungs- und -verbreitungsfreiheit zentrierten Menschenrecht. In der pressewirtschaftrechtlichen Tradition stehende Verbände und Unternehmen und deren Hausjuristen und Gutachter waren dann – insbesondere in Deutschland – bestrebt, jenes bejahrte Einheitskonzept im Sinn einer einfachen marktorientierten Medienunternehmerfreiheit (Tendenz- und Gewerbefreiheit) umzudeuten, schlagwortartig: Medienfreiheit als kommerzialisiertes „Menschenrecht“. Der Straßburger Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dem die letztverbindliche Interpretation der EMRK obliegt, ließ sich darauf allerdings nur zögernd ein. Solche pressespezifischen Bestrebungen gibt es aber auch heute noch, und sie werden neuerdings wieder stärker und haben auch in den Brüsseler Konventsberatungen eine Rolle gespielt. Daraus resultierte anfangs ein kommunikationsrechtlicher Entwurfsartikel, in dem es unter der Überschrift „Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit“ unter wörtlicher Übernahme des Art. 10 Abs. 1 Sätze 1 und 2 EMRK lediglich hieß:

„Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen frei zu empfangen und weiterzugeben.“

So dann auch im Ergebnis der heutige Art. 11 Abs. 1 EU-Charta. Das ist indes nicht mehr alles, was in diesem Artikel steht. Denn auf deutsches Drängen nahm der Konvent dann doch noch ein explizites Mediengrundrecht in seinen Textvorschlag auf, das in letzter Stunde folgende Fassung erhielt:

„Die Freiheit der Medien und ihre Pluralität werden geachtet.“

So heute Art. 11 Abs. 2 EU-Charta. Die Charta gibt sich mit dem Einheitskonzept nun also nicht mehr zufrieden, sie verfährt anders und erwähnt neben Meinungs- und Informationsfreiheit ausdrücklich eine Medienfreiheit. Damit nähert sie sich einer neueren Handhabung an, wie sie in den Verfassungen der Mitgliedstaaten häufig vorkommt. Kurz gesagt haben wir es mit einem Prozeß der allmählichen funktionalen Verselbständigung und Emanzipierung der Medienfreiheit von der Meinungsfreiheit zu tun.

Zwar wurde bei dem neuen Art. 11 Abs. 2 mancherorts wieder nur an eine tendenzgebundene und marktorientierte Medienunternehmerfreiheit gedacht, wie sie vorher auch schon in die EMRK hineingedeutet worden war. Die Formulierung erlaubt den Mitgliedstaaten aber auch ein Festhalten an der Public-Service-Idee, die in Ländern wie Großbritannien und Deutschland seit langem zum rundfunkrechtlichen Hausgut gehört und heute faktisch europaweit verwirklicht ist. Letztere Idee läuft auf eine ganz und gar eigenständige, öffentlich-„dienende“ und dabei voll professionalisierte Variante des Mediengrundrechts hinaus. Dafür ist nun also auch nach der EU-Charta Raum, und das verdankt sich, wie mir scheint, einer europäischen Sternstunde. Damit ist die eben erwähnte andere, „verdienende“ Variante der Medienfreiheit indes nicht etwa überwunden und historisiert, ganz im Gegenteil: Sie bleibt eine mächtige Rivalin der „dienenden“ Freiheit und liefert ihr eine Konkurrenz, welche bis zum finalen Verdrängungswettbewerb gehen kann. Dazu noch ein paar weitere Bemerkungen.

2. Welcherlei „Pluralität“?

An dieser Stelle sind noch einige entstehungsgeschichtliche Details von Interesse. Manches von dem Konzept einer funktional-„dienenden“ Freiheit war im Grundrechtskonvent unter dem Gesichtspunkt der Qualitätssicherung zur Sprache gekommen, etwa indem die ausdrückliche Normierung bestimmter von öffentlicher Seite zu gewährleistender Vielfaltstandards vorgeschlagen wurde. Vor allem wollte man den Medien eine „Meinungsvielfalt“ ins Lastenheft schreiben und dachte dabei bald an Binnen-, bald an Außenpluralität i.S. des deutschen Sprachgebrauchs. Daneben wurde aber auch für „kulturelle, nationale und regionale Vielfalt“, für einen „Pluralismus der Informationen“ oder einen „politischen Pluralismus der Medien“ plädiert. Wieder andere strebten eine Garantie medienstruktureller Vielfalt an und hatten dabei insbesondere das „duale Rundfunksystem“ deutscher Provenienz im Auge.

Daraus ergab sich im Konvent zunächst eine Textfassung, wonach die Medienfreiheit „unter Achtung ... des Pluralismus gewährleistet“ werden sollte. Wenig später wurde daraus dann der einfache Satz: „Die Freiheit der Medien und ihre Pluralität werden gewährleistet.“ Welcherlei „Pluralität“ damit gemeint sein könnte, blieb hier also offen. Unter die weite Formulierung konnten im Prinzip sämtliche eben genannten Varianten gebracht werden. Dies im einzelnen abzuklären und schrittweise zu konkretisieren, war hiernach Sache der jeweils zuständigen europäischen Organe, letztlich des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg. Und das war keine ganz einfache Aufgabe, denn es war einiger Streitstoff inmitten.

3. Wer soll die „Pluralität“ wahren – die Union oder die Mitgliedstaaten?

Verschiedene Vielfalt-Parameter als Maßstäbe näherer Ausgestaltung von Medienfreiheit als Funktionsgrundrecht, zumal auf dem öffentlichen Sektor – so etwas ist in Deutschland nichts Neues, das Bundesverfassungsgericht (BVerfG)  hat das den Ländern ja jahrzehntelang eingeschärft. Auch an das Prinzip der Strukturvielfalt im Sinn eines schiedlich-friedlichen Nebeneinanders von öffentlichem und privatem Sektor im Rundfunkwesen haben sich hierzulande viele gewöhnt – scheint darin doch eine Art pragmatische Bestandsgarantie für ARD/ZDF einerseits und für die beiden großen kommerziellen Gruppierungen (Bertelsmann/Kirch) andererseits angelegt zu sein. Freilich drücken sich darin schon beträchtliche Abstriche an dem funktionalen Grundrechtskonzept aus, was den Privatrundfunk betrifft. Und letzterer mag darin einen Anreiz erblicken, über kurz oder lang noch mehr (Marktrundfunk-)Freiheit zu fordern und schließlich auch die letzten öffentlichen Bindungen abzustreifen. In der Konsequenz dessen läge dann wohl auch ein Wiederaufleben älterer unternehmerischer Allmachtsphantasien, nämlich die Wunschvorstellung, mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk gänzlich Schluß zu machen und sich selbst an dessen Stelle zu setzen. So gesehen wohnte der gedachten Pluralitätsgarantie ein erhebliches Konfliktpotential inne.

Noch weniger angenehm mußte eine derartige Garantie den Inhabern hochkonzentrierter Marktmacht im Pressebereich erscheinen. Ihnen kann es zwar nicht darum gehen, mit einem überkommenen öffentlichen Sektor zu konkurrieren und ihn nach und nach zurückzudrängen, denn einen nennenswerten öffentlichen Sektor gibt es dort nicht. Wohl aber mag dortigen marktbeherrschenden Privatunternehmen daran gelegen sein, vielfaltsichernde öffentliche Aktivitäten auf dem eigenen Terrain möglichst abzuwehren. Dazu gehört insbesondere eine medienspezifische Konzentrationskontrolle. Auf nationaler Ebene findet sich dieser Modus der Vielfaltsicherung im Presserecht ohnehin erst ansatzweise. Im deutschen Privatrundfunkrecht war er anfangs etwas weiter gediehen, jedoch haben ihn die Länder hier 1996 zugunsten der beiden großen Senderfamilien so weit zurückgenommen, daß er seither kaum noch wirksam werden kann. Interessenverbänden wie BDZV und VPRT kam es nun aber darauf an, einer medienspezifischen Konzentrationskontrolle auch auf supranationaler Ebene einen Riegel vorzuschieben. Man erinnerte sich jetzt an einschlägige frühere Memoranden und Regelungsinitiativen der EG-Kommission – erste Vorstöße, welche es mit sich gebracht hatten, daß der Pluralismusbegriff im Blick auf die Medienkonzentration in den neunziger Jahren in das europäische rechtspolitische Vokabular aufgenommen worden war. Jene Brüsseler Aktivitäten waren aus Kreisen der deutschen Medienwirtschaft und sodann auch von Ländervertretern und der damaligen Bundesregierung heftig kritisiert worden, was schließlich zu ihrer Einstellung geführt hatte. Nunmehr befürchtete die Lobby jedoch eine Wiederaufnahme jener Regulierungsversuche unter Berufung auf Art. 11 Abs. 2 EU-Charta: Würden sich Organe und Einrichtungen der Union, und auch solche der Mitgliedstaaten „bei der Durchführung des Rechts der Union“ (Art. 51 Abs. 1 Satz 1 EU-Charta), künftig womöglich mit neuem Nachdruck der Gewährleistung von Medienpluralität im privaten Bereich widmen? Das wollte man tunlichst verhüten.

Und wieder hatten für solche kommerziellen Interessen und Ängste auch die deutschen Bundesländer ein offenes Ohr. Zugleich sorgten sie sich um den ungeschmälerten Fortbestand von ARD/ZDF und um ihre Rundfunkhoheit insgesamt, dies indes nun auch im Hinblick auf eher ökonomisch-marktorientierte Brüsseler Konzepte einer wettbewerblichen Vielfaltsicherung, welche von den Ländern auf dem öffentlichen Sektor als dysfunktional und ganz und gar unangebracht bewertet wurden. So vermischten sich hier recht verschiedenartige, teils privatnützige, teils gemeinwohlbezogene Abwehrmotive.

Alles dies führte zu einem auf eine erneute Textänderung gerichteten, ziemlich abenteuerlichen Vorstoß des vom Bundesrat in den Konvent entsandten deutschen Ländervertreters, des Thüringers Europaministers Gnauck. Dieser setzte dem Vernehmen nach sozusagen in geheimdiplomatischer Mission im Konventspräsidium in einer Nachtsitzung in letzter Stunde durch, daß in Art. 11 Abs. 2 der Ausdruck „gewährleistet“ durch „geachtet“ ersetzt wurde. Damit war eine Klarstellung intendiert, daß die Gewährleistung der Medienfreiheit Angelegenheit der Mitgliedstaaten sei und bleibe und daß Art. 11 Abs. 2 ein klassisches Abwehrrecht gegenüber der Gemeinschaft beinhalte, für diese aber keinerlei kompetenzbegründende Wirkung qua Ausgestaltungsbedarf, Schutzpflicht, Garantiefunktion o.ä. habe. Die Änderung wurde am nächsten Tag in der Schlußberatung des Konvents mehrfach als unerwünschte Abschwächung kritisiert. Das Gremium ließ die Änderung aber schließlich – sei es auch nur nolens-volens (mangels Einzelabstimmung) – passieren. So lautet nun auch die vorhin zitierte, auf dem Gipfel von Nizza verkündete Endfassung.

4. „Geachtet“ – was heißt das?

Ginge es nach den zuletzt referierten Motiven und Absichten, so wäre von dem deutschen funktionalen Grundrechtskonzept auf europäischer Ebene überhaupt nichts mehr wiederzufinden. Und das läge in der Auswechselung eines einzigen Worts beschlossen: „Geachtet“ statt „gewährleistet“ – die scheinbar geringfügige, freilich etwas lichtscheu betriebene Änderung hätte ungeahnte Folgen und Fernwirkungen. Die EU-Organe müßten danach die jeweiligen nationalen Medienstrukturen im Prinzip akzeptieren, gleichgültig, ob sich innerstaatlich duale oder sonstwie diversifizierte Systeme mit öffentlichen Anteilen oder aber nur kommerzielle, z.B. hochkonzentrierte und strikt boulevardisierte Marktmedien entwickeln und halten würden. Die Union müßte sich ein für allemal auf medienrelevante marktorientierte Teilkompetenzen bisheriger Art beschränken, wozu – wie von interessierter Seite gern behauptet wird – eine medienspezifische Konzentrationskontrolle eben nicht gehört. An weiterreichende qualitätssichernde, die Marktmedienfreiheit funktional überformende Brüsseler Regularien wäre schon gar nicht zu denken. Eher wäre mit fortschreitender Deregulierung zu rechnen, oder mit Untätigkeit und schlichtem Laisser Faire, womöglich auch im Fall einer heraufziehenden allgemeinen „Berlusconisierung“, der Machtergreifung irgendwelcher dubioser Oligarchen und Cliquen im Verlauf von Privatisierungsprozessen o.ä.

Was nun den öffentlichen Rundfunk in den Mitgliedstaaten betrifft, so hätte dieser aus Brüssel auch weiterhin die eine oder andere primär wirtschaftsrechtlich angeknüpfte, mehr oder minder ungeschickte Intervention zu gewärtigen. Nicht aber könnte die Union ein sachgerechtes und in sich stimmiges regulatorisches Gesamtkonzept i.S. einer „positiven Ordnung“ verfolgen. Sie könnte sich z.B. nicht prinzipiell für den Fortbestand eines öffentlichen Sektors stark machen, welcher einen qualifizierten Programmauftrag zu erfüllen und der Kommerzialisierung durchweg zu widerstehen hätte. Und von einer Entwicklungsgarantie für den öffentlichen Rundfunk, die sich bis auf die supranationale Ebene erstrecken würde, könnte nach dieser Lesart des EU-Grundrechts keineswegs die Rede sein. Medienfreiheit als Funktionsgrundrecht bliebe gleichsam in die nationalen Käfige eingesperrt, in problematischer Nähe zur expandierenden Marktfreiheit in deren jeweiliger innerstaatlicher Ausformung. Letztere Freiheit – und nur sie – bekäme auch auf europäischer Ebene neue Entfaltungschancen. Die „Freiheit der Medien“ nach Art. 11 Abs. 2 EU-Charta liefe so gesehen auf eine europaweit dominierende Marktmedienfreiheit hinaus, auch mit innerstaatlicher Wirkung. Eine öffentlich-„dienende“ Medienfreiheit hingegen bliebe auf europäischer Ebene – wie das in der praktischen Handhabung schon seit zwanzig Jahren der Fall ist – gewissermaßen eine unbekannte Größe. Sie hätte dort kaum reale Entwicklungschancen, vielmehr müßte sie mit einer isolierten und inselhaften, mittelfristig unsicheren Fortexistenz innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten vorliebnehmen.

Alles dies war im Grundrechtskonvent freilich nicht im mindesten ausdiskutiert worden. Daß ein derartiger ziemlich schlichter und fragmentarischer, im wesentlichen neoliberaler Ansatz im Konvent bei ruhiger Überlegung attraktiv und mehrheitsfähig erschienen wäre, ist nicht anzunehmen. Hernach wurde denn auch in zahlreichen Stellungnahmen von sachkundiger Seite, so von EP- und BT-Abgeordneten und von den Vorsitzenden der ARD-Rundfunk- und -Verwaltungsräte, bezweifelt, daß jenes restriktive Vorgehen weise war. Eine defensiv-nationalstaatliche medienpolitische Haltung, wie sie von den deutschen Ländern in der Schlußphase der Konventsarbeit an den Tag gelegt und unversehens durchgedrückt worden war, wurde als unrealistisch bewertet, und sie wurde als kurzsichtig und angstbesetzt kritisiert: Das sei „ein typischer Fall von Europhobie“, Art. 11 sei „noch nicht zu Ende gedacht“. Folglich wurde ein Nachbesserungsbedarf geltend gemacht, welcher vor allem die Rückkehr zur vorletzten Fassung des Art. 11 Abs. 2 („gewährleistet“) zu umfassen hätte. Außerdem wurde die ausdrückliche Einbeziehung der Public-Service-Idee in den Normtext angeregt, wobei an eine zeitgemäß weiterentwickelte, europäisierte Fassung des funktionalen Grundrechtskonzepts gedacht wurde.

Wieder andere Stimmen gingen allerdings dahin, der Ausdruck „geachtet“ habe bei Lichte besehen gar nicht jene latent antieuropäische, das Medienrecht renationalisierende Bedeutung, die ihm seine Väter und Fürsprecher im Konvent beigelegt hatten. Auf zwei medien- und europarechtlichen Fachtagungen in Brüssel und Trier zeichneten sich nun auch mancherlei relativierende und anderslautende Interpretationen ab. Es wurden auch Auslegungen vertreten, wonach „geachtet“ im Ergebnis ungefähr dasselbe wie „gewährleistet“ bedeutet oder der Union sogar noch weiterreichende Eingriffs- und Gestaltungsmöglichkeiten einräumt.

So erklärte eine Sprecherin der EVP-Fraktion des Europäischen Parlaments, man verstehe dort Art. 11 Abs. 2 als Legitimation und „Auftrag“, eine spezifische europäische Medienkonzentrationskontrolle weiter zu prüfen und nötigenfalls, vorbehaltlich des Subsidiaritätsgrundsatzes, doch noch einzuführen. Man sei bestrebt, „so viel Markt wie möglich, aber auch Wahrung und Achtung der Pluralismussicherung zu gewährleisten“. Von anderer Seite wurde „achten“ ohne weiteres, schon per Wortauslegung, mit „garantieren“ und „schützen“ gleichgesetzt, oder man leitete eine solche Gleichsetzung im Weg systematischer Auslegung aus Art. 52 Abs. 3 EU-Charta i.V.m. Art. 10 EMRK her: Die Menschenrechtskonvention schließe insoweit nach der Judikatur des EGMR auch eine öffentliche Gewährleistungsaufgabe ein, und die Konvention markiere damit einen verbindlichen Mindeststandard auch mit Wirkung für die Auslegung der Grundrechtscharta. Seitens des Europäischen Zeitungsverlegerverbands (ENPA) wurde sogar gemutmaßt, „achten“ sei in der Abwehrwirkung gegenüber EU-Organen eo ipso schwächer als „gewährleisten“. Es sei auch schwächer als beispielsweise „beachten“, lasse mithin für europäischen Interventionismus mehr Raum und werde womöglich ein höheres Regulierungsniveau nach sich ziehen.

Manch einer erblickte also in der fraglichen Textänderung einen „Pyrrhussieg“ jener Lobbyisten und Politiker, die das „geachtet“ im Konvent in letzter Minute durchgesetzt hatten. Letztere wollten und wollen das allerdings nicht gelten lassen, sie beharren vielmehr auf ihrer restriktiven Deutung. Nach alledem ist die Lage einigermaßen unübersichtlich. Es ist mit anhaltenden heftigen Interpretationsstreitigkeiten zu rechnen, und ein verbindlicher Letztentscheid seitens des EuGH ist nicht in Sichtweite.

5. Ein vergessener Aspekt: Europamedien als „Medium und Faktor“ europäischer Integration

Die EU-Medienfreiheit ist noch nicht rechtsverbindlich, sie hat aber schon im vorhinein eine wechselvolle Entwicklung durchlaufen. Im Grundrechtskonvent hat sie schwach begonnen (nur Annex der Meinungsfreiheit), dann jedoch deutlich aufgeholt und an dem allgemeinen Konstitutionalisierungstrend teilgenommen. Schließlich ist sie aber wieder zurückgefallen. Denn sie ist unversehens von gravierenden interpretatorischen Unklarheiten eingeholt worden, sie erscheint nun manch einem nebulös. Die von der deutschen Medienwirtschaft und den deutschen Ländern verfochtene restriktive Lesart wird wahrscheinlich auch in Zukunft eine erhebliche Rolle spielen. Auch wer jene Lesart ablehnt, wird gut daran tun, mit entsprechenden Irritationen und Hemmnissen zu rechnen, bis zu nationalstaatlich forcierten weiteren Blockadeversuchen hin. Im folgenden wird jene Lesart darum als ernstlich relevant veranschlagt – und das heißt m.E. auch: als dysfunktional und korrekturbedürftig im Weg neuerlicher Textänderung. Dafür sprechen vor allem folgende Überlegungen:

Bei Zugrundelegung jener restriktiven Lesart hat die EU-Charta in Art. 11 Abs. 2 einen grundrechtsdogmatischen Sonderweg eingeschlagen. Von Idee und Konzept einer Europäischen Verfassung hat sie sich damit abgekoppelt. Dieses supranationale Verfassungskonzept hat, wie gleich noch zu zeigen sein wird, mittlerweile immer mehr engagierte Fürsprecher gefunden, es steht im Zuge des Post-Nizza-Prozesses wieder ganz oben auf der Tagesordnung. Es müßte nun meiner Ansicht nach auch in der Charta, als dem potentiellen Grundrechtsteil einer EU-Verfassung, angemessen berücksichtigt werden, und zwar gerade auch bei den Kommunikationsgrundrechten. Wer hier nur mit klassischen Abwehrrechten operieren will, hat von den Dingen nicht viel verstanden. Leistungs- und teilnahmerechtliche sowie objektiv-institutionelle Aspekte sind ebenso wichtig. Soziale, kulturelle und politisch-demokratische europäische Grundrechtsdimensionen sollten auch bei Art. 11 mitbedacht und durch geeignete klare, unmißverständliche Formulierungen einbezogen werden. In medienrechtlicher Hinsicht läuft dies darauf hinaus, daß Europa eine Medienfreiheit als supranationales Funktionsgrundrecht braucht. Sie müßte in der Charta der – ohnehin existenten und einflußreichen – marktorientiert-defensorischen, neoliberalen Medienfreiheit hinzugefügt werden. Sie müßte, vor allem auch auf einem erst noch zu entwickelnden europäisch-öffentlichen Sektor, dauerhaft garantiert und stark gemacht werden.

Man wird hier auch schon an etwaige in Zukunft sich ergebende Kompetenzerweiterungen der Gemeinschaft in Richtung auf die Entwicklung relativ autonomer, öffentlich-integrativer Europamedien denken dürfen. Art. 51 Abs. 2 EU-Charta (keine neuen Aufgaben und Zuständigkeiten der Union) in Ehren – aber kann das hier wirklich das letzte Wort sein? Auch entsprechende informell-„kompetenzansaugende“ Wirkungen des Art. 11 werden nicht zu fürchten sein, solange und soweit die Gemeinschaftsorgane der Public-Service-Tradition noch Verständnis und Wertschätzung entgegenbringen und dem allgegenwärtigen Ökonomisierungsdruck standhalten. Das ist ein Aspekt, welcher in der bisherigen Diskussion meist vergessen worden ist. Eine Europäische Verfassung ist – (Bundes-)Staatscharakter bzw. Staatsähnlichkeit hin oder her – ohne medienspezifische EU-Kompetenzen kaum vorstellbar.

Denn zu einer EU-Verfassung gehört auch eine wohlinformierte und kritische europäische Öffentlichkeit, und diese wäre nicht nur von der nationalen Seite aus zu konstituieren. Sie wäre auch und vor allem durch genuin europäische öffentliche Medien herzustellen und zunehmend zu verdichten. Der weitere Konstitutionalisierungsprozeß könnte durch qualifizierte Europamedien auch schon im Vorfeld vorangetrieben werden. Auch wo heute noch europapolitische Kleinmut und nationale Verklemmtheiten vorwalten, könnte eine derartige paneuropäische „Medium- und Faktor-“Funktion nützlich sein. Sie könnte jenes beengte Ambiente positiv beeinflussen und endlich vielleicht sogar überwinden.

6. Textvorschläge zur Nachbesserung

Nach der jetzigen Fassung der Charta besteht die fragwürdige, auf die Menschenrechtskonvention zurückgehende Dominanz der Meinungsäußerungsfreiheit in Art. 11 Abs. 1 dem Wortlaut nach fort. Demgemäß ist mit anhaltenden Versuchen zu rechnen, die instrumentalistische medienwirtschaftsrechtliche Deutung des Art. 10 EMRK auch auf die Grundrechtscharta zu übertragen und darin auch die Medienfreiheit nach Art. 11 Abs. 2 einzubeziehen. Dieses Übel kann nun an der Wurzel gepackt und von da aus kuriert werden, indem der bisherige Abs. 1 durch eine modernere Version der Jedermannsrechte ersetzt wird. Eine solche findet sich beispielsweise in einem Änderungsvorschlag, welcher im April 2000 von ARD und ZDF in einer vom Konvent veranstalteten Anhörung vorgelegt worden ist:

„(1) Das Recht der freien Meinungsäußerung wird gewährleistet. Ebenso wird das Recht gewährleistet, sich aus allgemein zugänglichen, vielfältigen Quellen umfassend zu informieren. Dies schließt insbesondere den Zugang zu kulturellen Angeboten und Angeboten der Bildung ein.“

Darin drückt sich das Bestreben aus, die Informationsfreiheit nach deutschen (Karlsruher) Usancen ein Stück weit zu materialisieren, und zwar gerade auch im Blick auf ein entsprechendes qualifiziertes, zur öffentlichen Daseinsvorsorge gehörendes Medienangebot, wie es dann m.E. in Art 11 auch direkt angesprochen werden sollte. Demgemäß sollte die vorletzte Fassung des Art. 11 Abs. 2 wiederhergestellt, d.h. „geachtet“ sollte durch „gewährleistet“ ersetzt werden:

„(2) Die Freiheit der Medien und ihre Pluralität werden gewährleistet.“

Damit mag dem Gesichtspunkt der Vielfaltsicherung, was das Pressewesen betrifft, hinlänglich Rechnung getragen sein. Der Rundfunk indes, nicht zuletzt der öffentliche, sollte meiner Ansicht nach zum Gegenstand einer zusätzlichen, genaueren Bestimmung gemacht werden. Das könnte durch die Einfügung eines neuen Abs. 3 geschehen, welcher Elemente der rundfunkspezifischen Public-Service-Idee aufnehmen könnte, etwa in Gestalt von Formulierungen, wie sie sich im deutschen und österreichischen Rundfunkrecht finden und wie ich sie in europäisierter Form im Mai 2000 dem Grundrechtskonvent im Rahmen seines Netz-Consiliums unterbreitet habe:

„(3) Der Rundfunk dient der Information durch umfassende und wahrheitsgemäße Berichterstattung und durch die Verbreitung von Meinungen. Er trägt zur Bildung und Unterhaltung bei. Er ist Medium und Faktor des Prozesses freier Meinungsbildung. Er trägt der kulturellen Vielfalt in Europa Rechnung und fördert die europäische Integration. Er nimmt damit eine öffentliche Aufgabe wahr und ist darum unabhängig in der Programmgestaltung. Unbeschadet des Rechts, Rundfunk in privater Trägerschaft zu betreiben, werden Bestand und Entwicklung von Rundfunk in öffentlicher Trägerschaft gewährleistet.“

Alles in allem läuft das auf eine EU-Medienfreiheit mit größeren, im Rundfunkbereich besonders deutlich ausgeprägten funktionalen Anteilen hinaus, auch mit Wirkung für den privaten Sektor. Art. 11 EU-Charta stellt sich in der gedachten korrigierten Fassung als grundrechtliche Plattform öffentlich-privater nationaler und auch supranationaler dualer Rundfunksysteme dar, mitsamt allen im innerstaatlichen Bereich wohlbekannten Schwierigkeiten einer derartigen Strukturvielfalt. Entsprechendes gilt für künftige Diversifizierungen, wie sie in der Multimedia-Ära und unter Konvergenzbedingungen veranlaßt sein mögen. Wir hätten es dann auch auf europäischer Ebene mit Medienfreiheit als „dienender“ und „verdienender“ Freiheit zu tun. Immerhin würden sich damit auch neue Möglichkeiten programmlicher Qualitätsvorsorge eröffnen. Das könnte auch weiterer innerer Kräftigung der Union in politicis zugute kommen.

III. Der Verfassungskonvent

1. Der Konstitutionalisierungsprozeß geht weiter

Im Zuge des Post-Nizza-Prozesses ergab sich mancherorts, insbesondere in einigen nationalen Parlamenten und im Europäischen Parlament, eine nach und nach stärker werdende europäisch-konstitutionelle Dynamik und Aufbruchsstimmung. Parallel dazu schritt auch die Verfassungsdebatte im gesellschaftlichen und zumal im wissenschaftlichen Raum fort. Der Europäische Rat suchte dieser Entwicklung schließlich am 15.12.2001 mit einem ungewöhnlich mutigen Grundsatzbeschluß über „Die Zukunft der Europäischen Union“ Rechnung zu tragen. In dieser sog. Erklärung von Laeken werden eine bessere Verteilung und Abgrenzung der Zuständigkeiten sowie „mehr Demokratie, Transparenz und Effizienz“ anvisiert, und es wird die Frage aufgeworfen, „welche Initiativen wir ergreifen können, um eine europäische Öffentlichkeit zu entwickeln“. Damit kommt auch deren Vermittlung durch Medien wieder auf die Tagesordnung. Dies im Rahmen einer Reformperspektive, welche wichtige institutionelle Fragen, aber auch neue Vergewisserungen über gemeinsame Grundwerte einschließen soll.

Ins Auge gefaßt und – meist in Frageform – etwas näher gekennzeichnet wird in der Erklärung von Laeken ein möglicher „Weg zu einer Verfassung für die europäischen Bürger“. Dabei wird an eine Neuordnung der Verträge gedacht, welche dazu führen könnte, daß grundlegende Bestimmungen in einem „Basisvertrag“ zusammengefaßt und dem sonstigen Primärrecht als tragendes Element vorangestellt würden. In diesem Zusammenhang müsse auch „darüber nachgedacht werden, ob die Charta der Grundrechte in den Basisvertrag aufgenommen werden soll“. Schließlich stelle sich die Frage, ob diese Neuordnung im Laufe der Zeit dazu führen könnte, „daß in der Union ein Verfassungstext angenommen wird“. Als Kernbestandteile einer solchen veritablen „Verfassung“ werden u.a. wieder die Grundrechte und Grundpflichten der Bürger genannt.

Damit hat der Europäische Rat erstmals derart deutliche Signale in Richtung einer weiteren Konstitutionalisierung der Union gesetzt. Daß die Erklärung von Laeken neben selbstkritischen und vorwärtsdrängenden Passagen auch manche vorsichtigen Formulierungen enthält, erklärt sich wohl aus der Rücksichtnahme auf diejenigen, die für die Verfassungsidee noch nicht ganz gewonnen sind. Insbesondere in Großbritannien und den skandinavischen Ländern hatte es im Vorfeld nach wie vor zahlreiche eher zögernde oder skeptische Stimmen gegeben. Immerhin haben sich auch die Regierungschefs dieser Länder auf die nunmehr getroffenen, den Post-Nizza-Prozeß intensivierenden und beschleunigenden Vorentscheidungen eingelassen. Daraus gilt es nun das Beste zu machen.

2. Konvent redivivus

Solche elementaren Fragen sollen jetzt von einem „Konvent zur Zukunft Europas“ näher geprüft werden. Der Gipfel von Laeken ist damit einer nach der Krise von Nizza oftmals erhobenen, z.B. in Deutschland im politischen Raum fast einhellig geäußerten Forderung gefolgt, wonach für den weiteren Konstitutionalisierungsprozeß wiederum auf die Konventsidee zurückgegriffen werden sollte. Davon versprach man sich mehr Kreativität und Schubkraft und hoffte darauf, daß der zweite Konvent ebenso innovativ und schwungvoll ans Werk gehen werde wie der (weithin als gelungen und geradezu exemplarisch empfundene) erste Konvent unter Herzog. Für das neue Gremium bürgerte sich nun alsbald die Bezeichnung „Verfassungskonvent“ ein.

Zum Präsidenten des Konvents wurde vom Rat auf Drängen Chiracs der französische Alt-präsident Giscard d’Estaing ernannt. Ihm wurden als Vizepräsidenten zwei erfahrene und wohlprofilierte Europapolitiker zur Seite gestellt: der frühere italienische Ministerpräsident Amato und der frühere belgische Ministerpräsident Dehaene. Die Zusammensetzung des Verfassungskonvents entspricht im wesentlichen derjenigen des Grundrechtskonvents: Ihm sollen 16 Mitglieder des Europäischen Parlaments und 30 Mitglieder der nationalen Parlamente sowie 15 Vertreter der Staats-und Regierungschefs und zwei Kommissionsvertreter angehören. Hinzutreten sollen mit beratender Stimme Vertreter der osteuropäischen Bewerberländer in entsprechender Anzahl. Das Präsidium fällt diesmal größer aus, mit relativ kleinen parlamentarischen Anteilen: Neben Präsident und Vizepräsidenten sollen ihm 9 Konventsmitglieder angehören, nämlich je zwei Vertreter des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente, die Vertreter aller Regierungen, die während des Konvents den Ratsvorsitz innehaben, und zwei Kommissionsvertreter. Diese nicht ganz unbedenklichen Vorgaben mögen sich daraus erklären, daß Präsident und Präsidium wieder eine starke Position einnehmen sollen, wohl ungefähr à la Ratsverfahren. Der Konvent soll ab 1.3.2002 in Brüssel tagen und binnen eines Jahres ein Abschlußdokument ausarbeiten, das zu den anstehenden Zukunftsfragen jeweils verschiedene „Optionen“ oder aber konsentierte „Empfehlungen“ enthalten soll. Es soll dann als Ausgangspunkt für die Beschlußfassung der nächsten, für 2004 vorgesehenen Regierungskonferenz zur EU-Reform dienen.

Interessant ist auch, was in der Erklärung von Laeken über Öffentlichkeitsdimensionen der Konventsarbeit gesagt wird. In Anknüpfung an die diesbezüglich in Nizza erkennbar gewordenen guten Vorsätze wird auf öffentliche Rückkoppelungen und Diskurse besonderer Wert gelegt. Zur Vorbereitung der Beratungen soll der Präsident die Ergebnisse der bisherigen öffentlichen Debatte auswerten und in eine erste Arbeitsgrundlage für den Konvent einarbeiten. Der Konvent soll sich aller elf Arbeitssprachen der Union bedienen. Seine Erörterungen und sämtliche offiziellen Dokumente sollen – wieder technikgestützt, insbesondere per Internet – für die Öffentlichkeit zugänglich sein. Angestrebt wird eine die Beratungen begleitende umfassende öffentliche Debatte unter Beteiligung „aller Bürger“.

Zu diesem Zweck soll ein breit angelegtes beratendes „Forum“ eingerichtet werden. Es soll „allen Organisationen offen(stehen), welche die Zivilgesellschaft repräsentieren (Sozialpartner, Wirtschaftskreise, Nichtregierungsorganisationen, Hochschulen usw.)“. Gedacht ist an ein „strukturiertes Netz“, das in der Weise zustande kommen soll, daß diese Organisationen regelmäßig über die Arbeiten des Konvents unterrichtet werden und daß ihre Beiträge in die Debatte einfließen. Zu besonderen Themen können diese Organisationen auch nach vom Präsidium festzulegenden Modalitäten angehört oder konsultiert werden. Dergestalt soll eine deliberative Öffentlichkeit europaweit aktiviert und für den großen Verfassungsdisput gewonnen werden – ein weit ausgreifendes, durchaus anspruchsvolles Konzept. Seine Erfolgschancen werden nun zunächst davon abhängen, ob eine qualifizierte, hochkarätige personelle Besetzung des Konvents selbst zustande kommt. Wichtig wird dann vor allem sein, ob Gesellschaft und Wissenschaft die Aufforderung zum Dialog, vor der sie hier stehen, auch tatsächlich erkennen und annehmen.

3. Wird es auch eine Revision der Grundrechtscharta geben?

Bei günstigem Verlauf mögen sich die Beratungen des Konvents auf den gedachten „Basisvertrag“ zubewegen, als eine Art kontraktuelles Grundgesetz, welches dann von den Mitgliedstaaten akzeptiert und eventuell – wie bereits häufig gefordert wird – auch zum Gegenstand eines europäischen Referendums gemacht werden könnte. Wenn diese Schwelle überhaupt überschritten werden kann, wird man sich wohl auch leichter damit tun, die Grundrechtscharta in den neuen Grundvertrag aufzunehmen und auf diese Weise primärrechtlich zu verankern. Wenn man sich nun ernstlich anschickt, die Charta dergestalt rechtsverbindlich zu machen, wird man alsbald auf eine schwierige Frage stoßen: Ist die in Nizza verkündete Fassung eigentlich schon konstitutionsfähig?

Nach der Herzogschen „Als-ob-Theorie“, die der Grundrechtskonvent sich zu eigen gemacht hatte, sollte das ja das erklärte Ziel seiner Entwurfsarbeit sein. So bravourös der erste Konvent dabei nun auch vorgegangen ist – manches konnte er nach Lage der Dinge nur kursorisch und eilig beraten. Im Vordergrund stand dabei oftmals ein mehr taktisch-situatives, insbesondere vom Präsidium ausgehendes Kompromißfindungsstreben, auch auf Kosten von Bandbreite und Tiefenschärfe der Argumentation. Daß es hierbei manchmal auch ziemlich oberflächlich und unstet zugehen konnte, läßt sich anhand der Entstehungsgeschichte des Art. 11 illustrieren. So nimmt es nicht wunder, daß seither mancherorts – zumal in der deutschen rechtswissenschaftlichen und rechtspolitischen Fachdebatte – der Wunsch geäußert worden ist, das Ganze noch einmal auf seine systemische Kohärenz und innere Stimmigkeit zu überprüfen: Um nun auf Jahrzehnte hinaus zum verbindlichen supranationalen Grundrechtskatalog zu taugen, müsse die Charta erst einmal einer derartigen gründlichen Revision unterzogen werden. Oder man hat gemeint, jedenfalls an einzelnen inhaltlich wesentlichen, wegen des damaligen Zeitdrucks und Kompromißzwangs aber besonders unbefriedigend gebliebenen Textstellen sollte es noch einmal Gelegenheit für Präzisierungen und Klarstellungen geben. Dem wurde allerdings von anderer Seite entgegengehalten, dadurch würde womöglich der politische Generalkompromiß, den der Grundrechtskonvent in enger Abstimmung mit den nationalen Regierungen und Parlamenten gefunden habe, gefährdet, und die Charta würde insgesamt ins Rutschen gebracht.

Letzteres ist eine Befürchtung, welche m.E. nicht von der Hand zu weisen ist. Sie scheint im politischen Raum denn auch vorzuherrschen. So zögert man wohl, die inhaltliche Diskussion über den Chartatext im Verfassungskonvent noch einmal zu eröffnen und sich hier um weitere Fortschritte und Verbesserungen zu bemühen. Das Thema wird im übrigen nicht als vordringlich angesehen, viel bedeutsamer und schwieriger seien zur Zeit die institutionellen Reformprobleme. Demzufolge wird damit zu rechnen sein, daß eine Charta-Revision nur im Fall baldiger Fortschritte in den organisatorischen Kernfragen in Betracht gezogen und genauer geprüft wird. Falls man die konstitutionelle Ob-Frage bejahend beantworten kann und mit dem Projekt eines Grundvertrags wirklich in Gang kommt, wird man auch eher geneigt sein, der grundrechtlichen Wie-Frage näherzutreten, also über etwaige kleinere oder größere Nachbesserungen der Grundrechtscharta in concreto zu reden. Dabei wird stets zwischen zweierlei Risiken abzuwägen sein: Einerseits kann das Ganze wieder in Gefahr geraten, wenn das Bündel einmal irgendwo aufgeschnürt wird. Andererseits könnte die Union gezwungen sein, sich für lange Zeit mit gewissen stark defizitären, weiterer Integration abträglichen Detaillösungen einzurichten, falls die Weichen in der Charta jetzt falsch gestellt werden.

4. Art. 11 EU-Charta als exemplarischer Fall: Nachbesserung erwünscht!

Zwischen diesen beiden Risiken kann nur politisch-situativ und fallweise abgewogen werden. Und Art. 11 könnte insoweit ein exemplarischer Fall werden. Daß er dazu das Zeug hat und daß dies ein spannendes, für den Fortgang von Integration und Konstitutionalisierung in Europa wichtiges Thema ist, hatte sich vorhin schon gezeigt. Je nach den Umständen mag sich also die Gelegenheit ergeben, hier auf Nachbesserungen hinzuwirken:

Mindestens wäre in Art. 11 Abs. 2 die erwähnte defensiv-nationalstaatliche und euro-skeptische, ausgerechnet von deutscher Seite betriebene und in der Schlußphase der Brüsseler Beratungen fast handstreichartig durchgesetzte Änderung („geachtet“ statt „gewährleistet“) wieder rückgängig zu machen. Daraufhin könnte es bei günstigem Verlauf endlich zu konzeptionell in sich schlüssigen, nicht nur irgendwie zusammengeschusterten oder schlicht marktliberalen Brüsseler Gewährleistungsaktivitäten kommen. Falls es ein größeres window of opportunity gibt, mögen auch die weiteren vorhin vorgeschlagenen, auf ausdrückliche Normierung der rundfunkspezifischen Public-Service-Idee und auf eine entsprechende nachhaltige Qualitätssicherung zumal auf dem öffentlichen Sektor gerichteten Textänderungen in Art. 11 eine Chance haben. Um es noch einmal zu betonen: Dabei sollte auch die EU-Ebene einbezogen werden. Denn zu einer Europäischen Verfassung gehört auch eine öffentliche Sphäre, die durch europäische öffentliche Medien zu vermitteln wäre. Eine europäische ad-hoc-Öffentlichkeit mag sich demnächst auch schon auf dem Diskussionsforum des Verfassungskonvents herausbilden. Hier kann sie sich dann auch für ihre eigene dauerhafte Konstituierung und Institutionalisierung einsetzen und um entsprechende Mediendienste kümmern.

© 2017 Fakultät für Rechtswissenschaft » geändert 30.06.2011 von Juradmin Webmaster

Kontakt

Fakultät für Rechtswissenschaft
der Universität Bielefeld
Universitätsstraße 25
33615 Bielefeld

Fon (0521) 106-4301 / -4302
Fax (0521) 106-6414
E-Mail an die Fakultät

   

Informationen Universität