C. Vortrag im Rahmen des „Forums Offene Wissenschaft“ der Universität Bielefeld am 2.7.2001: Nur noch „Big Brother“ & Co.? Programmqualität im Fernsehen – Normen und Fakten

 

1. Einleitung

Medienfreiheit und Medienverantwortung sind im Grundgesetz garantiert. Für den Rundfunk (Fernsehen und Hörfunk) hat das Bundesverfassungsgericht Art. 5 Abs. 1 GG in langjähriger Rechtsprechung konkretisiert und daraus bestimmte konstitutionelle Richtwerte hergeleitet, die ich nachfolgend (2.) etwas genauer vor Augen führen möchte. Sie sind an nächster Stelle an den Gesetzgeber adressiert und spiegeln sich im geltenden Landesrundfunkrecht wider. Als Beispiel dafür habe ich Programmauftrag und Programmgrundsätze des WDR nach dem WDR-Gesetz (§§ 4-5) verteilt. Das sind wohllautende Paragraphen, die Sie vielleicht gern einmal schwarz auf weiß vor sich haben werden. Ähnliche programmrechtliche Bindungen enthält für den Privatrundfunk das Landesrundfunkgesetz Nordrhein-Westfalen (LRG NW) (§§ 11-12). Auch sie sind auf dem verteilten Blatt abgedruckt, und sie lesen sich ebenfalls ganz gut. Die normativen Voraussetzungen für die Gewährleistung einer Programmqualität, die den verfassungsrechtlichen Richtwerten entspricht, sind danach nicht schlecht. 
Empfehlenswert ist nun eine Gegenüberstellung von Normen und Fakten, die Sie z.B. in der Weise in Angriff nehmen können, daß Sie sich einmal mit den schönen Paragraphen in der Hand vor den Fernseher setzen und sich selbst ein Bild davon machen, ob und inwieweit die TV-Wirklichkeit diesen Vorschriften eigentlich entspricht. Wenn Sie eine Weile herumzappen, werden Sie dann wohl bald zu dem Eindruck gelangen: Die anspruchsvollen Programmnormen passen mit dem realen „Content“ nicht so recht zusammen, sie gleiten – vor allem beim Privatrundfunk – an den widerspenstigen marktmäßigen Fakten zusehends ab. Kritiker sprechen in der Tat von einem Trend zur Trivialisierung und Entpolitisierung, und sie befürchten, daß dieser Trend immer mehr um sich greifen wird, wenn der heutige technisch induzierte Strukturwandel weiter vorankommt und der Ökonomisierungsdruck wächst. Auch wer die Karlsruher Leitentscheidungen zu Art. 5 Abs. 1 GG nach wie vor für prinzipiell richtig hält, wird sich nunmehr einigen gravierenden Akzeptanz- und Innovationsproblemen zuwenden müssen, die es auf diesem Gebiet mittlerweile gibt (3.). Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist hierzulande bislang wohl im großen und ganzen oder jedenfalls zeitweise noch Garant einer Programmqualität, wie sie im Grundgesetz vorgezeichnet ist – wird es ihn aber auch in zehn oder zwanzig Jahren noch geben? Oder werden sich über kurz oder lang sämtliche Veranstalter der „Banalisierung“  verschreiben und nur noch auf Action, Fun, Melodram, Real Life Soaps („Big Brother“)  usw. setzen? Und wie wird es mit der Unterhaltungsgewalt weitergehen? Werden im Fernsehen schließlich auch reale Tötungshandlungen zu sehen sein, etwa in Gestalt von Hinrichtungs-Events, Russischem Roulette oder Gladiatorenspielen?  Wird man uns dann wegen älterer Werte und höherer Ansprüche auf Online-Kommunikation und E-Commerce verweisen? Wird daraufhin eine „elektronische Demokratie“ entstehen, oder wird es mit der Demokratie sozusagen über Nacht zuendegehen? 
Fragen über Fragen, und ich werde sie gewiß nicht alle zu Ihrer Zufriedenheit beantworten können. Immerhin können sie den Blick dafür schärfen, was wir an Medienfreiheit und Medienverantwortung in der Karlsruher Auslegung eigentlich haben. Sie können uns auch veranlassen, einmal ernstlich darüber nachzudenken, was wir als Zuschauer und Bürger dafür tun könnten, daß diese Grundrechte und Grundwerte möglichst ungeschmälert bleiben (4.).

2. Grundsätze der Verfassungsrechtsprechung

2.1. Öffentliche Kommunikation – vom Grundgesetz geschützt

Die Rundfunkfreiheit dient nach der deutschen Verfassungsrechtsprechung der freien individuellen und öffentlichen Meinungsbildung. Freie Meinungsbildung vollzieht sich hiernach in einem Prozeß der Kommunikation, der auf der Ebene des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG ansetzt und darin besteht, daß Meinungen frei geäußert, zur Kenntnis genommen und von den jeweiligen Zuhörern und Zuschauern als Material und Impuls für die eigene Meinungsbildung (und ggf. nachfolgende -äußerung) genutzt werden. Indem Meinungs- und Informationsfreiheit als Jedermannsrechte betätigt werden und im Rahmen öffentlicher Dispute – auch mit wechselnden Rollen, bei offenem Zugang – ineinandergreifen, entsteht der Idee nach jenes kommunikative Kontinuum, das freie Meinungsbildung möglich macht. Dieser Kommunikationsprozeß wird vom Grundgesetz in der Karlsruher Auslegung geschützt.

2.2. Auch die Vermittlungsfunktion des Rundfunks wird geschützt

Der gedachte Kommunikationsprozeß kommt, wie das Bundesverfassungsgericht betont, „unter den Bedingungen der modernen Massenkommunikation“ nicht mehr wie von selbst in größerem Maßstab zustande, sondern er bedarf jetzt der massenmedialen Vermittlung auf der Meta-Ebene des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG. Er bedarf insbesondere des Rundfunks als seines „Mediums und Faktors“. Der Rundfunk soll dabei „frei, umfassend und wahrheitsgemäß“ informieren. Er soll aus dem jeweils vorfindlichen Konzert der vielen Stimmen – inklusive Mitteilungen über Fakten – ein qualifiziertes „Gesamtprogramm“ machen, nämlich ein prozeßhaftes, informatorisch ergiebiges Substrat, wie es in dieser Sicht für Personalisation und Sozialisation unentbehrlich ist, und zumal für die Demokratieverwirklichung. Demgemäß wird die Rundfunkfreiheit als „eine der Freiheit der Meinungsbildung ... dienende Freiheit“ verstanden: Sie bildet „eine notwendige Ergänzung und Verstärkung dieser Freiheit“; sie dient der Aufgabe, „freie und umfassende Meinungsbildung durch den Rundfunk zu gewährleisten“. Verfassungsrechtlich geschützt ist demnach zweierlei: einmal der gedachte breite und intensive öffentliche Kommunikationsprozeß als solcher, zum andern die entsprechende eigenständige „Vermittlungsfunktion“ des Rundfunks als unerläßliche Voraussetzung dieses Kommunikationsprozesses.  Der Karlsruher funktionale Ansatz kehrt dann wieder beispielsweise in dem gesetzlichen Programmauftrag nach § 4 WDR-Gesetz und § 11 LRG NW, und er wird in den Programmgrundsätzen des § 5 WDR-Gesetz und des § 12 LRG NW weiter konkretisiert.

2.3. Unabhängiger Journalismus als motorische Kraft, die Bürgergesellschaft als Wächterinstanz

Rundfunkfreiheit ist hiernach vor allem Programmfreiheit. Sie besagt, daß Auswahl, Inhalt und Gestaltung des Programms Sache des Rundfunks bleiben und sich an „publizistischen Kriterien“ i.S. der qualifizierten Vermittlungsfunktion ausrichten sollen. Negativ ausgedrückt, sollen Rundfunkprogramme „frei von staatlicher Lenkung, aber ebenso von privater Indienstnahme“ sein. Die geschützte „Programmautonomie“ richtet sich gegen jede „Instrumentalisierung“ des Rundfunks für „außerpublizistische Zwecke“. Und „es ist der Rundfunk selbst, der aufgrund seiner professionellen Maßstäbe bestimmen darf, was der gesetzliche Rundfunkauftrag in publizistischer Hinsicht verlangt“. Jedwede heteronome Inpflichtnahme – sei es von außen oder von innen – soll ausgeschlossen werden. 
Letztlich ist es der in der Judikatur nunmehr immer klarer gesehene im Rundfunk verkörperte journalistische Professionalismus, der solche lenkenden Zugriffe hintanhalten soll, mit Rundum- und auch mit Binnenwirkung. Bei der Erfüllung des Programmauftrags nehmen die Journalisten hiernach kein Privatinteresse, aber auch keine staatliche Aufgabe wahr, und sie existieren auch nicht im Nirgendwo und sozusagen freischwebend. Sie sind vielmehr mit der Herstellung und fortdauernden Regeneration einer publizistisch-öffentlichen intermediären Sphäre befaßt, und sie handeln dabei in einem öffentlichen Interesse, das sich als gesellschaftlich-öffentlich bezeichnen läßt. 
So ist es denn der Idee nach die Gesellschaft selbst in ihrer Eigenschaft als wohlinformiertes und aufgeklärtes Publikum, die über die Erfüllung dieser öffentlichen Aufgabe wacht. Und sie ist es auch, die die dafür nötige Selbständigkeit und Professionalität gewährleistet. Damit sind wir alle angesprochen.

2.4. Die simple pressespezifische Alternative: Tendenz- und Gewerbefreiheit

Professionell betreiben läßt sich auch unfreie Meinungsbildung, wie sie in den marktstrukturellen Prämissen der traditionellen presserechtlichen Denkschule gewohnheitsmäßig – jetzt auch mit Wirkung für das Privatrundfunkrecht – angelegt ist;  das wird von jener Seite auch heute noch ganz unverhohlen verfochten und praktisch betrieben.  Das Tendenzblatt bzw. der Tendenzsender bildet danach die Publikumsmeinung nach seinem Belieben, z.B. als Abklatsch der Meinung des Verlegers/Veranstalters. Dabei kann es sich etwa um irgendwelche subjektiven politischen Präferenzen von Medieneigentümern oder hinter ihnen stehenden einflußreichen gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Kräften handeln. Ein Beispiel aus dem vorigen Jahr wird Ihnen noch in Erinnerung sein: Bestimmte Boulevardblätter suchten aus Anlaß von Benzinpreiserhöhungen im Massenpublikum „Benzinwut“ anzufachen und für eine Kampagne gegen die (ohnehin schwach entwickelte) Ökosteuer zu nutzen – ein Thema, das dann in der parteipolitischen Arena wochenlang eine Rolle spielte. Die Bundestagsopposition wollte damit den gegenwärtigen Bundeskanzler als „Autokanzler“ treffen und zu einer steuer und umweltpolitischen Kurskorrektur bewegen.  Auf derartige meinungsmäßige Kampagnen ist das sog. außenplurale Vielfalt- und Konkurrenzkonzept zugeschnitten. 
Professionalisieren läßt sich aber auch ein scheinbar „meinungsloses“, primär erwerbswirtschaftlich motiviertes Streben nach Markterfolg per Infotainment, Emotainment, Trash usw., wie es beim heutigen kommerziellen Rundfunk vorwaltet. Auch „Big Brother“ wird von Leuten gemacht, die auf diesem Gebiet Profis sind. Solche flotten Gesellen pflegen kurzerhand auf die – in Einschaltquoten ausgedrückte – Publikumsnachfrage in der „Spaßgesellschaft“ zu verweisen. Der Frage nach ihrem eigenen Beitrag zur Herausbildung eines derartigen Massengeschmacks und nach ihrer entsprechenden Verantwortung weichen sie gern aus, indem sie eine bedürfnispositivistische Attitüde annehmen und programmliche Qualitäts- und Kriterienfragen als von vornherein unerlaubt abtun.  Darum ist es wichtig, immer wieder auf den normativen Bezugsrahmen jener besonderen, gesellschaftlich-öffentlich legitimierten  Professionalität hinzuweisen, die das Bundesverfassungsgericht in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG verankert sieht.

2.5. Rundfunk als „Medium und Faktor“ diskursiver Öffentlichkeit

Bei der Rundfunkfreiheit hat man es nach der Karlsruher Rechtsprechung eben nicht mit einem Grundrecht zu tun, das seinem Träger „zum Zweck der Persönlichkeitsentfaltung oder Interessenverfolgung“ eingeräumt ist  – nicht zum bloßen Propagieren eigener Meinungen, auch nicht zu bloßen Erwerbszwecken. Vielmehr ist Inhalt der Medienfreiheit hiernach eine fremdnützige und dabei selbständige und kreative publizistische Vermittlungstätigkeit. Professionell zu vermitteln ist eine Medienöffentlichkeit, welche etwas mit dem Demokratieprinzip der Art. 20 und 28 GG zu tun hat. Man mag dabei an das Wunschbild diskursiver Öffentlichkeit nach Habermas denken,  über das heutige Kommunikations- und Sozialwissenschaftler intensiv debattieren.  An „Publizisten“ bzw. „Massenmedien“ richten sich danach folgende normative Erwartungen: Sie „sollen sich als Mandatar eines aufgeklärten Publikums verstehen, dessen Lernbereitschaft und Kritikfähigkeit sie zugleich voraussetzen, beanspruchen und bestärken; sie sollen sich unparteilich der Anliegen und Anregungen des Publikums annehmen und den politischen Prozeß im Lichte dieser Themen und Beiträge einem Legitimationszwang und verstärkter Kritik aussetzen. So soll die Medienmacht neutralisiert – und die Umsetzung von administrativer oder sozialer Macht in politisch-publizistischen Einfluß blockiert werden“.  Die vermittelnde, öffentlichkeitsgenerierende Funktion von unabhängigem Journalismus wird demnach jetzt auch von Habermas als grundsätzlich möglich und wünschenswert veranschlagt. Zugleich richtet er den Blick auf die zivilgesellschaftlichen Voraussetzungen und Infrastrukturen solcher Medienfunktionen und postuliert ein entsprechendes bürgerschaftliches Engagement.

In früheren Jahren war für derartige Vorgänge der Selbstvergewisserung und Identitätsbildung via Medienöffentlichkeit auch der Ausdruck „Integration“ üblich, und man stellte dem pressespezifischen Marktmodell das rundfunkspezifische Integrationsmodell gegenüber.  Dies schließt einen entsprechenden materialen (nicht nur zahlenmäßig fixierbaren) Vielfaltbegriff ein,  wie ihn das sog. binnenplurale Vielfaltkonzept kennt. Mitzudenken ist dabei auch eine interpretierende und vergleichende, analytisch-kritische journalistische Komponente, die das Ganze in Bewegung bringen und für die eigene Urteilsbildung und Positionsfindung der Rezipienten erschließen kann. Wenn es nicht bei einer statischen und schlicht-proportionalen, außenpluralen „Meinungsausstellung“  sein Bewenden haben soll, ist ein entsprechendes relativ autonomes journalistisches Potential allemal unentbehrlich.

2.6. Rundfunkfreiheit als Funktionsgrundrecht

Vielfaltsicherung heißt danach so viel wie Qualitätssicherung überhaupt,  nämlich Sicherung individueller und öffentlicher Meinungsbildungsfreiheit (auch als Bildungsfreiheit sui generis ), Gewährleistung der dafür erforderlichen Programmqualität, und zwar gerade auch im Bereich fiktionaler und nonfiktionaler Unterhaltung. Dem soll die Rundfunkfreiheit nach dem Grundgesetz „dienen“! Darum soll sie im Verhältnis zu den Jedermannsgrundrechten der Informations-, der Meinungsbildungs- und der Meinungsäußerungsfreiheit nach Typus und Inhalt ein aliud darstellen. Sie soll sich diesen Jedermannsrechten – als Rechten anderer – funktional zuordnen. Sie kann in diesem wohlverstandenen Sinn als Funktionsgrundrecht bezeichnet werden, und sie ist innerhalb des kommunikationsrechtlichen Grundrechtsgefüges ein Element des Grundrechtsvoraussetzungsschutzes.

3. Zukunftsperspektiven, Innovationsbedarf

3.1. Auf dem Weg zur Medienunternehmerfreiheit?

Vor kurzem ist das Grundgesetz fünfzig Jahre alt geworden. In den Feierlichkeiten und Festreden zu dem runden Geburtstag pflegte ein ruhiger, eher wertkonservativer Tonfall vorzuherrschen. Einer größeren generellen Verfassungsreform wurde kaum das Wort geredet. Auch der Grundrechtskatalog wurde im allgemeinen als bewährt und weiterhin brauchbar erachtet. Im Medienbereich allerdings sah und sieht das etwas anders aus. Hier wird viel von Modernisierung und Innovation gesprochen, und es zeigen sich manche Zweifel und Unsicherheiten:

Bedarf es noch der Gewährleistung der Rundfunkfreiheit in der bisherigen Art, oder ist die Verfassung hier nicht mehr auf der Höhe der Zeit? Ist es jedenfalls die langjährige, einigermaßen komplexe und anspruchsvolle Karlsruher Auslegung des Art. 5 Abs. 1, die heute überholt ist, mitsamt allem, was sich daraus an Staatsverträgen und Gesetzen ergeben hat? Rundfunk als „Medium und Faktor“ großer Diskurse, als Träger einer öffentlichkeitsgenerierenden, in journalistischer Unabhängigkeit zu betätigenden professionalisierten Vermittlungsfunktion – muß das noch ein verfassungsrechtliches Thema bleiben? Oder wären wir gut beraten, nunmehr zu einer stärker wettbewerbsorientierten, auf Deregulierung und marktmäßige Selbststeuerung abzielenden Grundrechtsdoktrin überzugehen? Sollten wir im Medienrecht einem Verschlankungs- und Privatisierungsbestreben Raum geben, wie es auch sonst oft verfochten wird: weg von Public-Service-Idee und „dienender Freiheit“, hin zu einer Medienunternehmerfreiheit als simplem Konstrukt aus Gewerbe- und Tendenzfreiheit? Weg vom bisherigen hochdifferenzierten, wesentlich kulturrechtlich geprägten Rundfunkrecht und hin zum Wirtschafts-, insbesondere Kartellrecht? 
In der Tat wird so etwas häufig gefordert. Dabei wird in der Regel nicht an förmliche Änderungen des Verfassungstextes gedacht. Vielmehr wird ein sog. stiller Verfassungswandel ersehnt, nämlich eine Uminterpretation der Rundfunkfreiheit, wie sie in der rechtswissenschaftlichen Diskussion bereits von zahlreichen Autoren betrieben wird, zumal von denjenigen, die in der pressespezifischen Traditionslinie stehen und der Medienwirtschaft als Gutachter oder sonstwie verbunden sind.

3.2. Nur noch Marktmedien?

Solchen Stimmen zufolge entsteht gegenwärtig ein so großes Individualisierungspotential, daß eine selbständige massenkommunikative Vermittlungsfunktion im bisherigen Karlsruher Verständnis mit der Zeit ganz und gar überflüssig wird. Auch die entsprechende journalistische Berufsrolle soll dann obsolet werden. Im Zeichen fortschreitender technischer und publizistischer Konvergenz, Europäisierung, Globalisierung usw. soll es mit Rundfunk und Rundfunkfreiheit heutigen Zuschnitts nach und nach zuende gehen. Jeder Netz-Surfer soll dann sein eigener Programmdirektor werden, ungefähr nach der flotten Devise: Medienkompetenz  statt öffentlicher Daseinsvorsorge, Medienkompetenz statt einer qualifizierten journalistischen Vermittlungsfunktion, und auch Medienkompetenz statt Medienrecht, Medienverfassung, Verfassungsrechtsprechung ... Auch prominente SPD-Politiker reden heute geflissentlich einen Bedeutungsverlust des Medienrechts herbei und meinen entsprechende Steuerungsdefizite durch die Förderung individueller Medienkompetenz wettmachen zu können. 
In unternehmensnahen Verlautbarungen kommen derartige Wunschvorstellungen auch in vergröberter Form vor. Man ist dann in erster Linie auf wirtschaftlich-marktmäßige Entfaltung bedacht, und man strebt für den kommerziellen Rundfunk ein Höchstmaß an nationaler und transnationaler wettbewerblicher Freizügigkeit an, einschließlich beschleunigten Einstiegs in die Multimedia-Entwicklung. Eine vielfaltsichernde rundfunkspezifische Konzentrationskontrolle wird gescheut und als entbehrlich bezeichnet. Qualitätsdebatten werden hinsichtlich des privaten Sektors tunlichst gemieden. Qualitätssichernde inhaltsrelevante Gesetzgebung und anstaltliche Aufsicht werden als Wettbewerbshindernisse hingestellt, sie werden nach Möglichkeit überspielt oder ins eigene Boot gezogen. Normalerweise präferiert man Verhandlungslösungen und interessiert sich für deren rechtlichen Rahmen nur beiläufig. Das Kooperationsprinzip wird dabei in durchaus problematischer Weise praktiziert. 
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk erscheint in jener Sicht konzeptionell nebensächlich. De facto wird er als Vielfaltreserve und Lieferant von Qualitätsprogrammen legitimatorisch nach wie vor dringend benötigt, davon macht man aber lieber nicht viel Aufhebens und trifft unterdessen Vorkehrungen, ihn auf einen eng definierten gesetzlichen „Funktionsauftrag“ zurückzustutzen. Auf längere Sicht gilt er sogar vielen als moribundus, man strebt dann einen vollständigen Paradigmenwechsel an (nur noch Marktmedien).

3.3. „Race to the bottom“?

Nach meiner Ansicht könnten die neuen Megatrends auf Veränderungen hinauslaufen, welche die Grundlagen des Verfassungsstaats angreifen würden, beginnend mit heutigen Vorstellungen von Personalisation/Sozialisation/Enkulturation, wie sie dem Programmauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zugrunde liegen. Daraus folgt dann womöglich ein Niedergang medienvermittelter politischer Öffentlichkeit, überhaupt von Politik und politischer Steuerung als demokratischer Selbststeuerung. Alles dies wäre im großen Publikum einfach nicht mehr nachgefragt, wenn dieses Publikum eines anspruchsvolleren Verständnisses von Rundfunk einmal entwöhnt und zur sogenannten Spaßgesellschaft regrediert wäre. Eine zu energischen Gegenmaßnahmen fähige deliberative und regulative Politik würde man unter diesen Umständen wohl vergebens suchen. Über „Mediendemokratie“ und deren konstitutionelle Schwächen wissen wir mittlerweile einiges.  Um so leichter könnte also der „Race to the bottom“  einsetzen: Alle Veranstalter geben sich der Trivialisierung und Infantilisierung des Programmangebots hin, jeder sucht die Konkurrenz mit eine Zeit lang quotenträchtigen neuen Trash-Formaten und Tabubrüchen usw. auszustechen. Die Erlebnisgesellschaft konsumiert vorzugsweise fiktionale und nonfiktionale leichte Unterhaltung, sie giert nach den jeweils nächsten von der Branche erfundenen ärmlichen Reizen à la „Big Brother“ und überläßt anspruchsvollere Agenden denjenigen, die fähig und willens sind, sich auf Online-Kommunikation umzustellen. 
Ob und inwieweit das Internet hierzulande aber nach dem Bilde „alter Medien“ Öffentlichkeit generieren und substantielle politische Diskurse hervorbringen kann, wird sich erst noch erweisen müssen.  Jedenfalls besteht dabei das Risiko einer Aufspaltung und Herausbildung einer neuen sozialen Schichtung nach Nutzern und Nichtnutzern der neuen Techniken (Digital Divide).  Die Verlierer des Modernisierungsprozessses würden in ihrer großen Masse auf die – wahrscheinlich auf Sichtweite fortbestehenden, aber wie beschrieben depravierten („Unterschichtfernsehen“) – konventionellen TV-Programme angewiesen bleiben. Aber auch wer sich bislang nicht als Looser sieht, ist noch längst nicht auf der sicheren Seite. Wenn die horizontale und vertikale Medienkonzentration im bisherigen Tempo weitergeht und auch die Netzkommunikation voll erfaßt, werden wir wohl noch zu spüren bekommen, was „vorherrschende multimediale Meinungsmacht“  wirklich ist. Vielleicht werden wir über kurz oder lang bei ein paar allgegenwärtigen postnationalen, an „Content“ nur noch geschäftlich interessierten Unternehmensgruppen am Tropf hängen. Das könnte zu Verdummungs- und Vermachtungseffekten bisher unbekannten Ausmaßes führen.

4. Vorläufiges Fazit

Das sind mißliche Perspektiven, wir sollten uns dadurch aber weiter nicht beeindrucken lassen. Fünfzig Jahre Grundgesetz – warum sollten wir uns das Jubiläum eigentlich dermaßen verderben lassen? Weshalb sollten die Errungenschaften des Art. 5 Abs. 1 GG in der Karlsruher Auslegung nunmehr fallengelassen werden? Für eine derartige Kehrtwendung gibt es keinerlei ernstlich in Betracht zu ziehende Gründe. Auch zu Resignation sehe ich keinen Anlaß. Vielmehr wird darüber nachzudenken sein, wie Medienöffentlichkeit à la Karlsruhe auch in den kommenden Jahren gesellschaftlich garantiert und politisch vorangebracht werden kann. Wie läßt sich erreichen, daß die dafür nötige „Medium- und Faktor-“Funktion fortbesteht und weiter floriert, und zwar auf allen in Betracht kommenden politischen Ebenen: lokal, regional, national, nun aber auch weit darüber hinaus, bis in neue Dimensionen wie die europäische   und die globale  hinein? 
Als entscheidender Punkt erweist sich in der Zukunftsdebatte immer deutlicher die Beibehaltung und weitere Ausdifferenzierung der konstitutionellen Entwicklungsgarantie für den öffentlichen Sektor. Man wäre ja gern bereit, auch gut gemachte private Informationsprogramme wie n-tv in diese Option einzubeziehen. Man würde auch etwaige qualifizierte Kulturprogramme privater Herkunft bereitwillig anerkennen und in extenso nutzen – aber wo sind sie denn? Das Bundesverfassungsgericht hat insoweit 1986 eine tiefe, letztlich medienökonomisch begründete Skepsis zu erkennen gegeben,  und jene Sichtweise ist m.E. auch heute noch nicht überholt – ganz im Gegenteil: Manches spricht dafür, daß Medienfreiheit als Funktionsgrundrecht künftig nur noch in wohlsituierten und kräftigen, im umgebenden marktmäßigen Getümmel prinzipienfesten öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zuhause sein wird.

Große Anstalten wie NDR und WDR werden am ehesten imstande sein, den Ökonomisierungsdruck auszuhalten und den Versuchungen der Selbstkommerzialisierung  zu widerstehen. Sie sind heute in ein duales System eingebunden, in dem auf der Gegenseite zusehends regressive Züge hervortreten, mit ungewissen Folgen für Publikum und Bürgergesellschaft. Dagegen können sich die Anstalten nicht ohne weiteres immunisieren. Um so mehr wird ihnen an einer wirksamen kommunikativen Gegensteuerung gelegen sein müssen. Dazu gehört vor allem ein eigenes hochqualifiziertes journalistisches Potential, mit welchem den beginnenden inneren Deformationen der Spaßgesellschaft begegnet und das große Publikum gehalten bzw. wiedergewonnen werden kann – eine Herausforderung, die nicht überall klar gesehen wird. Im ZDF beispielsweise meint man anscheinend, den Tanz um das Goldene Kalb in gewissem Umfang mitmachen zu können, ohne dabei das öffentliche Spezifikum preiszugeben.  Das allerdings wäre doch wohl ein Irrtum. Um auch in zehn Jahren noch zu bestehen, wird man in Mainz mehr tun müssen, auf eine kurze Formel gebracht: Man wird Mittel und Wege finden müssen, auch unter Markt- und Konvergenzbedingungen tatsächlich „Medium und Faktor“ öffentlicher Diskurse zu bleiben.

Damit sind Innovationen gefordert, zu denen bei günstigem Verlauf auch ein aufgeklärtes Publikum etwas beitragen kann: Medienvermittelte Öffentlichkeit als Produkt und Garant von verantwortlichem Journalismus und journalistischer Freiheit.  Wenn ein derartiges wechselseitiges Engagement wirklich zustande kommt, kann das Elend des Marktrundfunks niemals universell werden. Zum Schluß also eine Frage an uns alle als Zuschauer und Bürger, die vielleicht in der Diskussion weiter behandelt werden könnte: Was können wir dafür tun, daß „Big Brother“ & Co. nicht das letzte Wort behalten? 

© 2017 Fakultät für Rechtswissenschaft » geändert 30.06.2011 von Juradmin Webmaster

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